Der US-Amerikanische Autor, Dichter und Dozent Clint Smith hat sowohl für seine Essays und Texte als auch seinen 2016 erschienenen Gedichtband „Counting Descent“ zahlreiche Preise erhalten.
Smiths neue Monografie „Was wir uns erzählen. Das Erbe der Sklaverei – Eine Reise durch die amerikanische Geschichte“ ist aussagekräftig, aufwühlend und revolutionär. Inwiefern müssen Lesende sich diese intensive Erfahrung jedoch eigenständig erarbeiten?

Clint Smith setzt sich in den diversesten Formen für einen informierten Umgang mit Schwarzer Geschichte und der Geschichte des Sklavenhandels ein.
Das eigene kulturelle Erbe seiner Urgroßeltern bettet Smith nun in einen landesweiten Kontext ein und behandelt in einer Kombination von Dialogen, Recherchen, Gemeinplätzen und ausgiebigen historischen Kulissen, die in einem unglaublich hohen Anteil vernachlässigten historischen Traumata und Ungerechtigkeiten, die versklavten Menschen in den Vereinigten Staaten zuteil geworden sind.
Über seine literarischen Veröffentlichungen hinaus hat der Autor beispielsweise zwei TED-Talks gehalten: The Danger of Silence und How to Raise a Black Son in America, die beide auf YouTube verfügbar sind.
Die neue Monografie „Was wir uns erzählen“ ist vorrangig als journalistische Entdeckungsreise mit ausgiebig ausgearbeiteten historischen Kontexten stilisiert.
Smith besucht Orte wie die Whitney Plantation und das Angola Prison in Louisiana, den Blandford Friedhof in Virginia, diverse Wahrzeichen aus der Geschichte des Sklavenhandels in New York und das Maison des Esclaves auf der Insel Gorée in Senegal, einen Erinnerungsort für den Sklavenhandel.
Die historischen Hintergründe dieser Orte, obgleich die meisten von ihnen für die grausame Unterdrückung und unmenschliche Behandlung von versklavten Menschen stehen, werden auf eine sachliche und ausgeglichene Art vorgestellt, ihre Historie informativ erörtert und mit persönlichen Eindrücken der Orte ergänzt.
Sehr interessant ist die Differenzierung von Perspektiven, beispielsweise der Sons of Confederate Veterans, denen Smith sich mit höchstmöglicher Objektivität nähert. Er ergänzt faktische Quellen, Belege und Zitate mit persönlichen, teils offensichtlich durch Nostalgie oder Legenden verzerrten Interpretationen der Befragten – und zeigt in gewissen Gruppen als Tatsachen geltende, auf genauere Obduktion allerdings weniger plausiblen Perspektiven auf.
„Wärt ihr hier oben im Norden geblieben,
wäre überhaupt nix passiert.“(215)
Insofern ist für das Verständnis der Monografie auf den Originaltitel zu achten (How the Word is Passed, 2021) – da dieser aus meiner Sicht hätte besser übertragen werden können.
Allerdings beschreibt der Untertitel „Das Erbe der Sklaverei – Eine Reise durch die amerikanische Geschichte“ die Methode, den Inhalt und die Idee hinter der Monografie mit Präzision.
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Historisch liniert betrachtet beginnt die Monografie mit einer Desillusionierung der nostalgischen Idealisierung US-Amerikanischer Präsidenten wie Thomas Jefferson und Abraham Lincoln.
Smith durchleuchtet und expliziert gängige Mythen und tatsächliche Quellen, die den Umgang mit Sklavenhandel, die Massaker von versklavten Menschen und das Ausmaß an Brutalität entweder kaschieren oder aus einer verzerrten Perspektive zu schildern versuchen – und deckt auf, wie gnadenlos beispielsweise mit Schwarzen Soldaten im Bürgerkrieg, jedoch allgemein mit versklavten Menschen umgegangen wurde.
„Sauf dein Blut, Du wirst keinen Durst mehr haben.“(182)
Aufgrund der die Kapitel verbindenden Stilisierung als Reisebericht mit Schilderungen von Landschaften, Gerüchen und Geräuschen sowie persönlichen Eindrücken der jeweilig bereisten Orte gestaltet sich die Lektüre der Monografie trotz informativer Reichhaltigkeit als fließend und leicht.
Smith kombiniert faktische Komplexitäten mit zwischenmenschlich fokussierten Unterhaltungen – er spricht mit den lokalen Tour Guides, mit anderen Besucher:innen der Orte, und im Epilog des Buchs mit seinen eigenen Großeltern. Diese Entscheidungen verleihen den Texten, trotz inhaltlichem Gewicht, eine erzählerische Leichtigkeit, die das Material auch für historisch semi-interessierte Laien lesbar und verständlich gestalten.
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Die Kapitel besitzen sowohl faktisch als auch emotional einen unterschiedlichen Grad an Schrecken und Grauen. Am Blandford Friedhof erwähnt der Tour Guide beiläufig, dass die Führungen versuchen, sich nicht auf die Entstehung und Implikationen des Friedhofs, sondern die Kapelle und „auf die Schönheit der Fenster zu beschränken.“ (173) An dieser Stelle ruft der Umgang mit der Geschichte des Ortes Entsetzen bezüglich der Ignoranz hervor.
Um einiges schwerer zu verdauen sind vergleichsweise jedoch die Beschreibungen zerrissener Familien, die hohe Kindersterblichkeit, und vollständige Gleichgültigkeit gegenüber versklavter Menschen und ihrer Menschenwürde oder menschlichen Bedürfnissen.
Insbesondere schneidet die Schilderung Schwarzer Mütter ins Herz, die aufgrund ihrer Verpflichtung, als Ammen weiße Kinder zu stillen oder zu arbeiten, ihre eigenen Kinder nicht ernähren konnten – was zu katastrophalen Fehl- und Unterentwicklungen führte.
Symbolkraft verleiht der US-Amerikanischen Nostalgiekultur und ihrem Umgang mit Schwarzer Geschichte ein frühes Modell der Freiheitsstatue, welches in ihrer linken Hand anstatt der schlussendlich dort platzierten Tafel ein Paar zerbrochener Fußschellen hielt. Bei der endgültigen Version von Lady Liberty
„[…] lagen nur noch kleine Stücke zerbrochener Ketten,
weniger auffällig, zu ihren Füßen
und wurden teilweise von ihrer Robe verdeckt.“(317)
Zu guter Letzt gilt ein Lob mit Nachdruck der visuellen Ausrichtung und der sprachlichen Dynamik der Ortsbeschreibungen. Smith schafft es, einen filmischen Fluss aus Serien und Filmen bekannten Szenen im Kopf lebendig und aktiv werden zu lassen und sich aufgrund der neuen Kenntnisse vollständig umzuändern.
Schwarze Kinder, die unter der Statue eines konföderierten Soldaten spielen; Kirchen und Friedhöfe, deren grausame Entstehungsgeschichte mit einem Vergrößerungsglas hinter Verschnörkelungen gesucht werden muss; kulturhistorische Traditionen, die in Gewalt wurzeln – alles, was man:frau von US-Amerikanischen Medien geliefert bekommen hat, wird durch diese Lektüre rekontextualisiert und in ein neues Licht gestellt.
Ein gewisses Ausmaß an Kenntnissen über die US-Amerikanische Geschichte setzt dieses Buch für ein tieferes Verständnis der Gesamtzusammenhänge voraus.
Selbstredend sind alle historischen Ereignisse, die kurz berührt werden, schnell auf Google o.ä. recherchiert, dennoch verlangen die Kapitel für das volle Maß an Leseerkenntnissen eine gewisse Eigenregie.
Für tiefere Recherchen Bietet die Monografie zudem einen üppigen Anhang an Online-Quellen und weiterführenden Lektüren an.
Wer für eine solche informative und emotionale Wucht bereit ist, dem sei für Clint Smiths „Was wir uns erzählen“ eine Leseempfehlung mit Nachdruck ausgesprochen.
Eine gehaltvolle und bereichernde Lektüre hatte ich bei dieser Monografie vor allem dem hervorragenden Austausch mit meinen Lesepartnerinnen Laila und Jule zu verdanken, da wir unsere Perspektiven und Einrücke im Gespräch wunderbar ergänzen und ausführen konnten.
Lailas Gedanken zum Buch findest Du hier. Jules Beitrag auf Instagram findest Du hier.
Hier geht’s zur Leseprobe.
Bibliografie:
Titel: Was wir uns erzählen. Das Erbe der Sklaverei – Eine Reise durch die amerikanische Geschichte
Autor:in: Clint Smith
Übs.:in: Henriette Zeltner-Shane
432 Seiten | 26,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 14.03.2022
Verlag: Siedler
ISBN: 978-3-8275-0158-5
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Kategorien:Home, Neuerscheinungen, Sachbuch
Vielen Dank. Das klingt interessant.
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Gerne, ich habe es mit viel Gewinn gelesen!
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