Das bisherige Lesejahr 2022 brachte einen beeindruckend hohen Anteil an Sachbüchern mit sich – die allerdings ambivalente Eindrücke hinterlassen haben.
Von erhellenden Lesemomenten bis hin zu Enttäuschungen war alle dabei. Im heutigen Beitrag möchte ich Dir eine kurze Zusammenfassung der in diesem Jahr bisher gelesenen empfehlenswerten Sachbücher präsentieren und einige Ergänzungen in Kurzform einfügen.
Die Rubrik „Sachbuch“ wurde in diesem Blog zwar erst im laufenden Jahr eingepflegt, allerdings beschäftige ich mich seit längerer Zeit und steigender Regelmäßigkeit mit Neuerscheinungen aus dieser Kategorie.
Bereits bei der Challenge 12 für 2022 hatte ich mir unter anderem das Ziel gesetzt, mehr Sachbücher zu lesen. Auch dank NetGalley habe ich die Möglichkeit erhalten, neue Sachbücher in E-Buch-Form zu schmökern – dadurch ist es beispielsweise einfacher, in den Büchern nach konkreten Personennamen oder Stichpunkten zu suchen und mir Notizen zu machen, um relevante Aspekte oder Begriffe aus den üppigeren Lektüren zu speichern.
Aufgrund der enormen Buchmenge, die auch in der zweiten Hälfte des Jahres auf mich zukommen wird, kann ich bereits verraten, dass Sachbücher in den Jahreshighlights 2022 eine separate Würdigung erhalten werden.
Sogar für die 12 für 2023 Challenge sind bereits spannende Monografien eingeplant. Diesen Blog zu abonnieren lohnt sich also definitiv, wenn Du keine neuen Beiträge zu spannenden Neuerscheinungen verpassen möchtest – sowohl Belleristik als auch Sachbücher betreffend.
Im Folgenden möchte ich drei Kurzrezensionen zu interessanten Sachbuchlektüren als Ergänzung zu den Blogbeiträgen anbieten, die bisher aufgrund ihres knappen Umfangs nur auf meiner Bookstagram-Seite erschienen sind.
Ich freue mich auf weitere Ergänzungen und Empfehlungen zu lesenswerten Sachbüchern in den Kommentaren!
Alice Bota: „Die Frauen von Belarus“
„1991 ging die Sowjetunion unter.
Aber der Mythos von der emanzipierten Frau,
die durchs Leben pflügt und über die
Klagelieder der westlichen Frauen müde lächelt, der alle
Türen offenstehen […] Er hält sich bis heute.“(54)

Die deutsche Journalistin Alice Bota (* 1979) gewährt in „Die Frauen von Belarus“ (2021) nicht nur einen vielschichtigen Blick ins zeitgenössische Geschehen in Belarus (insbesondere die Fälschung der Wahlergebnisse und darauffolgende Aufstände in 2020), sondern konzipiert gehaltvolle soziohistorische Diskurse wie das widersprüchliche Idealbild der sowjetischen Frau – sie skizziert die mageren Fakten hinter einer illusorischen Geschlechtergleichheit, kontrastiert mit Lukaschenkos misogynen Aussagen – für ihn gleichen Frauen eher „Gegenständen“ (59) als Subjekten.
Enorm wichtig sind die einleitenden Explikationen der Namenwahl im Buch – mit der Verbalisierung dieser Ansprüche und Thematisierung ihrer Wichtigkeit zeigt die Autorin eine hohe kulturhistorische Sensibilität auf, die derzeit wichtiger ist, denn je.
Botas hauptberufliche Beschäftigung als Journalistin schimmert durch das gesamte Buch: sowohl die gut recherchierten Politikerporträts mit spannenden Nuancen, die biografischen Vertiefungen und Gespräche mit den zentralen politischen Akteurinnen Swetlana Tichanowskaja, Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa; Interviews und Begegnungen mit Repräsentantinnen aller gesellschaftlichen Sparten wurden mit Fakten, Statistiken, und Zeugenberichten ausgeschmückt; trotz der gehaltvollen Inhalte und der schwergewichtigen Thematik besitzt die gesamte Monografie jedoch einen Lesefluss, der das Buch nicht aus der Hand legen lässt.
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„Die Frauen von Belarus“ bietet ein universal zugängliches Verständnis der zeitgenössischen belarussischen politischen und gesellschaftlichen, ideologischen und philosophischen Mentalitäten und ist somit nicht nur für europäische Bürger:innen Pflichtlektüre.
Botas kluge, charismatische Schilderungen und Reflexionen zur Geschichte und Gegenwart eines gespaltenen Landes erhalten von mir eine uneingeschränkte Leseempfehlung.
Amia Srinivasan: „Das Recht auf Sex. Feminismus im 21. Jahrhundert“
„Im Feminismus dürfen wir nicht der Illusion verfallen,
dass sich Interessen grundsätzlich einander annähern;
dass unsere Pläne keine unerwarteten,
unerwünschten Folgen haben,
dass die Politik eine Wohlfühlzone wäre.“ (12)

Die US-Amerikanische Philosophin Amia Srinivasan (*1984) wagt mit ihrer Monografie „Das Recht auf Sex Feminismus im 21. Jahrhundert„ (The Right to Sex. Feminism in the Twenty-First Century, 2021) einen ambitionierten Versuch der symbiotischen Kombination von traditionalistischen und modernen Herangehensweisen an Formen und Historie der feministischen Bewegungen.
Teilweise ist diese ungewöhnliche Synergie gelungen – teilweise erscheinen die Aufarbeitungen zu eklektisch.
Die enorme Menge an feministischen Diskursen, die Srinivasan Anspricht – Karzeralismus, Sexarbeit und Pornokonsum, sexuelle Freiheit und Consent-Kultur, Machtdynamiken in akademischen Strukturen – scheint an einigen Stellen zu überfordern.
Srinivasan bringt für einige Begriffe und Ereignisse enorm viele nicht kontextualisierte Beispiele, argumentiert in anderen Kapiteln kohärent und selbstständig pro und contra ihrer Diskussionspunkte.
Als Lichtblicke in „Das Recht auf Sex“ bleiben vor allem diejenigen Passagen in Erinnerung, in denen die Autorin eigene Reflexionen zu feministischer Freiheit, Verständnissen von Feminismen, die Rolle von Intersektionalität und Geschlechtergleichheit ausführt. Leider sind diese Reflexionen nicht in allen Kapiteln und bei allen Themen im Vordergrund und variieren stark im Ton (von sachlich-analytisch bis emotional-wütend).
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Explizit beim Umgang mit PoC im Kontext des intersektionalen Feminismus und queeren Individuen im Kontext des patriarchalen, misogynen Pornomarktes grenzten Srinivasans Auslegungen für meinen Geschmack am Binär-traditionalistischen; während das queere Spektrum in anderen Passagen vollständig berücksichtigt wurde.
Zusammenfassend bleibt in der Monografie also strukturell und kohärenzbedingt einiges zu bemängeln – und dennoch zu hoffen, dass die Autorin ihre Ansprüche zukünftig in einer stringenteren, weiterentwickelten Form übermittelt.
Der multifacettierte Umgang mit Feminismen und sexpositiven Philosophien ist trotz Kritik mehr gelungen ist als nicht.
„Saidiya Hartman: Aufsässige Leben, schöne Experimente.
Von rebellischen schwarzen Mädchen,
schwierigen Frauen und radikalen Queers“
„[…] Ruhestörung, Sittenlosigkeit, Herumtreiberei und
Prostitution –, deretwegen schwarze Mädchen und junge Frauen
regelmäßig schuldig gesprochen wurden.
Ein modernes Leben, das sich Mädchen wie sie
erdacht hatten, wurde als Verbrechen empfunden.“(81)

Die US-Amerikanische Autorin und Professorin Saidiya Hartman (*1960/61) sammelt in ihrer Monografie „Aufsässige Leben, schöne Experimente“ (Wayward Lives, Beautiful Experiments: Intimate Histories of Riotous Black Girls, Troublesome Women, and Queer Radicals, 2019) einzelne Momente, flüchtige Begegnungen, allgemeine Lebensumstände, individuelle Gemütszustande und verknüpfte Lebenslinien.
Anhand von Berichten, Fotos, theoretischen Grundlagen und eigener Fantasie webt sie so ein unglaublich weites Netz an Beobachtungen über die Leben von individualistisch veranlagten jungen schwarzen Mädchen und Frauen, die nach Freiheit, Karriere, Erfolg streben – und zeigt, wie diese Personen von ihrem Umfeld zurückgehalten, schief angeschaut, unterdrückt und verurteilt werden.
Die einzelnen Momente und Episode beschreibt Hartman vorrangig aus einer populärwissenschaftlich-soziologischen Perspektive – ihre Methode ist die Mischung von Theorie und Narrative.
Hartman hat den Begriff der „critical fabulation“ oder „kritisches Fabulieren“ begründet; sie erzählt teils fiktive, teils spekulative, teils auf Recherchen basierende Geschichten, die beispielsweise oft nicht an historisch feststellbare Personen, allerdings immer an authentische Zeitdokumente gebunden sind.
Während die leidenschaftlichen Milieu- und Personenbeschreibungen in Hartmans Monografie mitreißend und interessant verfasst worden, gestalten die fehlende Stringenz und der Mangel an historisch greifbaren Linien diese Lektüre etwas schwierig, ausschweifend, eher als Stück-für-Stück-Buch als lineares Gesamtes.
Dennoch wäre „Aufsässige Leben“ denjenigen Lesenden zu empfehlen, die sich für soziologisch fundierte Schwarze Geschichte und Milieustudien aus dem beginnenden 20. Jahrhundert interessieren.
Wer gerne Zora Neale Hurston und Wallace Thurman liest, wird sich ebenso gerne in Hartmans Erzählungen vertiefen können. Wer in einer historisch anlehnenden Monografie ausschließlich klare Strukturen, fundierte Fakten und sachliche Informationen sucht, wird hier vermutlich keine passende Lektüre vorfinden.
Weitere Empfehlungen aus der Kategorie „Sachbuch“ in diesem Blog:
Überleben und Erinnern. Clint Smith: „Was wir uns erzählen“
Transzendierender Nachlass. Toni Morrison: „Selbstachtung“
Anthropologische Schatzkiste. Zora Neale Hurston: „Barracoon“
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Bei „Recht auf Sex“ frage ich mich ob es sich um ein tatsächlich feministisches Buch handelt oder eher ein so genanntes Queerfeminitisches Buch? Das wäre für mich ausschlaggebend in der Auswahl der Lektüre. Da sogenannter Queerfeminismus sich oft genug frauenfeindlich verhält ist das eigentlich kein wirklicher Feminismus und der Begriff wurde sich fälschlicherweise angeeignet.
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Schwierige Frage. Bei dieser Lektüre erschloss sich mir seitens der Autorin weder ein klares Konzept ihres Feminismus, noch ein klares Verständnis ihrer Positionierung bezüglich des intersektionalen Feminismus – eher erschien sie mir zu Teilen queerfeindlich zu sein, was mich persönlich am meisten irritierte.
Von einer singulären Definition von Feminismus möchte ich angesichts der kulturellen und soziokulturellen Pluralisierung in unserer Gesellschaft allerdings grundlegend absehen, weswegen ich das Wort „Feminismen“ wählte.
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Vielleicht ist sie sich selbst nicht ganz klar darüber. Der echte Feminismus ist ja weder Queer noch Queerfeindlich noch kann man ihn wirklich intersektional nennen – je nachdem wie man diesen Begriff gebraucht. Sondern Feminismus dreht sich allein und explizit um das Thema Frauen und Frauenrechte. Leider wird das heute oft vermischt. Ich führe das auf die Unkenntnis bezüglich feministischer Geschichte zurück.
Aber ich glaube viele kommen da durcheinander, weil auch oft verschiedenste Dinge in einen Topf geworfen werden. Vielleicht ist es mit diesem Buch aus so.
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Die Auseinandersetzung mit den Begründerinnen und Haupttheoretikerinnen feministischer Theorien ist in dem Buch sehr oberflächlich. Allerdings geht es der Autorin in der Monografie um diverse Erscheinungsformen des Feminismus, als Weiterentwicklung des Grundbegriffs. Ihrem eigenen Anspruch wird sie leider ebenso nicht gerecht. Glücklicherweise scheint das Begriffsverständnis der Autorin Entwicklungspotenzial aufzuweisen.
Zur Ergänzung: Sie laufen Gefahr, mit dem Ausdruck „echter“ Feminismus organische, aufgrund Gesellschaftlicher Veränderungen basierende Entwicklungen des Begriffsverständnisses zu verbieten. Wenn wir als ursprüngliche Definition von Feminismus die Gleichstellung der Frau, ihre Emanzipation aus ihrer Position als ewige Zweite und die kritische Dekonstruktion sowie Bekämpfung patriarchaler Strukturen verstehen, muss für ein zeitgenössisches Begriffsverständnis unbedingt auf queere Geschlechteridentitäten, nonbinäre Beziehungsstrukturen und der soziale Wandel von „Frau“ versus „weiblich“ nachvollzogen werden. Diese Phänomene schließen sich keineswegs aus, sollen aus meiner Sicht in Symbiose und im Geiste des Feminismus arbeiten können. Dass dieser aufgrund der kulturellen Diversität unserer zeitgenössisches Gesellschaft als intersektional gilt, ist meines Erachtens ebenso sehr deutlich und wichtig.
Auch andersrum sehe ich allerdings Phänomene wie Queerfeminismus als kritisch, da es vom „eigentlichen“, gemeinsamen Ziel (und hier stimme ich wiederum zu) ablenkt. Diese Fragmentierung, Polarisierung und Anfeindung sind ernsthafte Probleme.
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