Die georgisch-deutsche Autorin Nino Haratischwili (* 1983) offenbart in ihren gehaltvollen und umfangreichen Romanen Momente aus georgischer Zeitgeschichte, malt komplexe Familiendynamiken und ambivalente Freundschaften aus – und beschäftigt sich mit der Vergangenheit und Identität ihres Heimatlandes.
Aus welchen Elementen setzt sich das umfangreiche historische Panorama im neuen Roman „Das mangelnde Licht“ zusammen – und was macht diese schwere Kost so lesenswert?

Nino Haratischwili schreibt in eigenen Worten am liebsten ausschweifend und umfangreich.
Die Autorin schmückt ihre Geschichten, Kapitel und Figuren gerne üppig, vielschichtig, großzügig aus – ihre Romane sind bereits mit ihrer durchschnittlichen Seitenzahl Zeugen ihrer Vorliebe für dicke Bücher.
Der beeindruckende Umfang, die inhaltliche Vielfältigkeit und leidenschaftliche Beschäftigung mit der Geschichte und Identität Georgiens sind nur einige derjenigen Aspekte, die Haratischwilis Romanen Erfolg gebracht haben.
„Die Katze und der General“ war auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2018 zu sehen, das Familienepos „Das achte Leben (Für Brilka)“ wurde in 25 Sprachen übersetzt, der neue Roman „Das mangelnde Licht“ bereits vor Erscheinen in 15 Länder verkauft.
„Das mangelnde Licht“ erzählt zeitgleich die blutige, brutale Geschichte von Tbilissi in den 1980er und 1990er Jahren – und die ambivalente, schwierige, komplexe Geschichte von vier Freundinnen, die sich in der Gegenwart im Jahr 2019 wiederfinden.
„[…] Wir ahnten in der Vollkommenheit dieses Moments nicht,
dass unsere Welt bereits im Begriff war zu zerfallen.“(154)
In einer Brüsseler Galerie treffen Keto, Ira und Nene einander nach Jahren wieder – um eine zu Ehren ihrer Freundin Dina zusammengestellte Retrospektive zu feiern.
Anhand der einzelnen Fotos (die als Kapiteltitel auch die Geschichte strukturieren) versetzt Keto, aus deren Perspektive erzählt wird, sich immer wieder zurück in die Vergangenheit, die Kindheit und die Jugend in Tbilissi.
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In einer anspruchsvollen Exposition bilden Ketos detailreiche Beschreibungen zu ihrem Häuserblock zunächst ein Wirrwarr an Eindrücken, Figuren, Verknüpfungen und Momenten.
Die Anzahl an Akteuren ist in diesem Roman milde gesagt überdurchschnittlich.
Sobald das lesende und das reflektierende Auge allerdings mit der Vielfalt an ersten Eindrücken zurechtkommen und verinnerlicht haben, wer in welcher Wohnung lebt, wie viele Geschwister in der Familie sind und wessen Onkel welchen Beruf ausübt, rutscht man:frau mit einer erzählerisch beeindruckenden Leichtigkeit ins Geschehen ein.
„In unserer Stadt waren die Mädchen pudrig und hauchzart,
sie waren dafür gemacht, an der Ehre ihrer Männer zu weben
und ihnen warmes Brot zu backen; sie waren dazu da,
um zu fremden Bildern zu werden.“(268)
Anhand der Fotografien und Ketos Erzählungen schält sich die tragische Vergangenheit der vier Mädchen (später Frauen) nach und nach aus der Geschichte.
Stark beschrieben sind sowohl die szenischen Schilderungen der Schlachten um die Heimat – ob es nun ums Territorium im Stadtviertel oder den Einfluss im gesamten Land geht – sowie die einzelnen Verluste, die die vier Freundinnen als Teilchen vom Mikrokosmos ihrer Stadt erleiden müssen.
Die Ereignisse in Tbilissi zerstören Freundschaften, Familien, Hoffnungen, Liebesbeziehungen, Seelen und Körper – mal direkt, mal indirekt, mal schrittweise. All dem wohnen die vier jungen Frauen bei.
Bis die Ereignisse eine von ihnen mit sich nehmen.
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Ohne viel inhaltliches verraten zu wollen: kompositorisch bewegt Haratischwili sich wie gewohnt zwischen zwei Orten und kehrt immer wieder nach Georgien zurück, während die Rahmenhandlung in Brüssel ebenso weiterläuft. Die Spannung ihrer Handlung hält sie durchgängig aufrecht.
Immer wieder beschreibt die Autorin gleichzeitig und zeitgleich geschehende Entwicklungen, die ab und an in filmischen Momenten münden (Z. B. S. 341). Sie lässt ihre Protagonistin fast – nur fast – zur auktorialen Erzählerin werden, ergänzt allerdings immer wieder Kausalitäten der Informationen, wie ihr Sachen geschildert worden; stellt eine Falle, als Ketos Erinnerung sie – in einem schockierenden Moment – schwerwiegend täuscht und von den anderen Frauen vervollständigt beziehungsweise berichtigt wird.
Regelmäßig wird von Anbeginn der Erzählung vor eintretendem Grauen gewarnt, bereits innerhalb der ersten Reflexion darauf hingedeutet, dass großes Leid und intensive Trauer die noch jungen Mädchen erwarten.
„[…] wäre das alles ein Film, würde
ich ihn vollkommen übertrieben finden.“(742)
Wer in einem leidenschaftlichen Stil geschriebene, emotionale Geschichten nicht mag und sachlichere Berichte zu historischen Ereignissen bevorzugt, könnte diesen Roman etwas pathetisch finden.
Die elegische emotionale Grundlage ist allerdings auf Basis von reiner Logik absolut begründbar.
Dass ein Wiedersehen und eine Konfrontation mit der eigenen Lebensgeschichte, die von unglaublich schweren Zeiten, Tod, Armut, Schmerzen und menschlicher Zerstörung geprägt ist, wehmütig und düster stimmt, ist wohl oder übel zu erwarten.
Zumal auf Dinas Fotos zahlreiche Personen abgebildet sind, die auf tragische, brutale, herzbrechende Art und Weise gestorben sind – oder Schmerzen erleiden mussten, die ihre Seele in Einzelteile zerlegt haben.
Dass Haratischwili ihre Leserschaft auf eine ehrliche und tröstend-sanfte Art und Weise darauf hinweist, wie die Geschichten vier junger Mädchen, deren Freundschaft in wunderschönen und aufregenden Erinnerungen begonnen hat, in wenigen Jahren in absolutes Grauen getaucht wird, empfand ich persönlich als äußerst schonend und freundlich.
Es gäbe noch so viel positives, entsetzliches und beeindruckendes über diesen Roman zu berichten. Gerne können wir die Unterhaltung in den Kommentaren fortsetzen.
Für diejenigen, denen „Die Katze und der General“ bereits bekannt ist, wird „Das mangelnde Licht“ vergleichsweise eine sentimentalere Lektüre bieten – allerdings mit ebenso vielen authentischen Kulissen, historischen Komplexitäten und faszinierenden Figurendynamiken, die mit Leidenschaft verwoben worden.
Meinerseits spreche ich für den neuen Haratischwili eine klare Leseempfehlung aus.
Hier geht’s zur Leseprobe.
Bibliografie:
Titel: „Das mangelnde Licht“
Autor:in: Nino Haratischwili
832 Seiten | 34,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 25.02.2022
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
ISBN: 9783627002930
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