
Die georgisch-deutsche Autorin und Regisseurin Nino Haratischwili setzt mit ihrem Roman Die Katze und der General (2018) den Maßstab für großformatiges, multifacettiertes und herausragendes Erzählen.
Doch das nicht nur wegen der zentralen Schuld-und-Sühne-Thematik an Dostojewski erinnerndes Buch ist nichts für Leser mit schwachen Nerven.
Die Katze und der General ist eine Reise in die historische und existenzialistische Vergangenheit des reflektierenden Individuums: die Geschichte folgt zwei einander fremden Figuren, von denen einer aus Tschetschenien, die andere aus Georgien stammt. Beide haben eine Herkunft, Familiengeschichte, eine in beiden Fällen im Laufe von brutalen historischen Ereignissen zerstückelte oder zerstörte Heimat. Daraus bezogen tragen beide Hauptfiguren einen Schatten ihrer Selbst mir sich, der das neue Leben in Deutschland zwangsläufig prägt.
Durch eine einerseits ungewollte, andererseits angepasste Begegnung sind Katze und General jedoch gezwungen, ihrer Vergangenheit tief ins Auge zu blicken. Das Ergebnis: in gleichem Maße kathartisch – und fatal.
Es gibt einige Kritikpunkte an diesem Roman, denn es gibt keinen perfekten Roman. Einige Nebenfiguren erscheinen im Gesamten als überflüssig. Für die zahlreichen Familienanekdoten hat man als von zwei-bis-vierhundert-Seiten-Formaten betüdelter Leser nicht die Geduld. Das hindert mich dennoch nicht daran, die gesamtheitliche Exzellenz von Haratischwili zu preisen, die durch alle Ecken der Erzählung durchschimmert.
Als erstes fällt die tiefgehende Art des Erzählens auf. Die Autorin lässt den Leser nicht nur auf ihre Landschaften und deren Bewohner schauen, sondern diese auch wirklich sehen. Beginnend mit der Katze, werden individuelle Wünsche, Träume, Meinungen und Ideologien geschildert, die die Figurendynamiken durch den Roman hindurch prägen. Bemerkenswert ist, dass die Figurendichte der Erzählung die Figurenqualität keineswegs beeinflusst. Jede Kusine, Jede flüchtige Begegnung und sogar jede Straßenecke hat Charakter, eine eigene Palette an Tönen und Launen, die der Gesamthandlung eine beeindruckende Reichhaltigkeit verleihen.
Die Autorin selber meinte zum Thema epische Ausführlichkeit in einem Interview:
„Ich bin keine große Meisterin der Verknappung. Das fällt mir schwer. […] Ich muss mich austoben dürfen. Dann weiß ich nicht, wie lang das geht, ob es drei Seiten hat oder dreihundert – da mache ich mir erstmal gar keine Gedanken.“
Die Freude, der Wille – und vor allem die Fähigkeit, überlange Passagen gekonnt umzusetzen, sodass man es wirklich durchgehend genießt, 700+ Seiten zu lesen, ist in der literarischen Landschaft unseres Jahrhunderts eher selten gesehen – und gehört zu den großen Kostbarkeiten von Haratischwilis Romanen.
Die Handlung selbst ist, wie gewarnt, nichts für schwache Nerven: Sobald die Katze und der General sich getroffen haben, wird klar, dass die zu bewältigenden Verbrechen der Jugend alles andere als kleine Sünden sind. Zum Ende des Romans geht es nicht nur für die Hauptfiguren um Leben und Tod.
Historisch berührt die Autorin Themen aus der eigenen Nähe und Umgebung: inhaltlich bearbeitet Die Katze und der General den Mord der russischen Journalistin Anna Politowskaja, die Tschetschenienkriege, die kulturellen, politischen und geopolitischen Änderungen, bewirkt durch den Zerfall der Sowjetunion. Die emotional-reflexive Ebene aus diesen Kontexten heraus führt zu den grundlegenden Krisen eines Migranten zwischen zwei fremden Orten und der Suche nach Glück und Heimat im eigenen, meistens gespaltenen Inneren.
Haratischwili geht auf dieser ebene einen Schritt weiter und eine Ebene tiefer, sie wählt die Dostojewski’sche Route zur moralphilosophischen Analyse ihrer Figuren: Die Autorin obduziert die Semantik von Sühne, Vergebung, Reue und Erlösung; streut zusätzliche Nenner wie Pflicht, Zwang und andere mindernde Umstände in die Apologie des Unmenschen hinein. Dass Figuren als ambivalent behandelt werden, ist eine krasse Untertreibung. Die psychologische Bandbreite des Romans ist enorm.
Doch werden eben nicht nur historisch-militaristische, sondern auch grundlegende menschliche Sünden analysiert: diejenigen Fehler, die man als Tochter, Mutter, Sohn oder Bruder seinen Nächsten gegenüber begehen kann – oder gar gegenüber dem Heimatland.
„Sie kamen in das gelobte Land und fanden Gelegenheitsjobs,
man warf ihnen kleine Brotkrumen hin, aber gewährte ihnen keine realen Chancen, man schickte sie zu Sprach- und Fortbildungskursen, man legte ihnen nahe, handfeste Jobs anzunehmen, weil sich ihre ätherischen und merkwürdigen Berufe (wie Linguistin für Altgriechisch, […] oder Solfeggio-Lehrerin) für den Alltag im Westen als nicht brauchbar erwiesen.
Und so gehorchten sie […].„
Die Vergangenheit macht für die Gesamterzählung vom seelischen Gewicht her mindestens genauso viel aus wie die Gegenwart, die Entwicklung oder die Zukunft der Figuren, das kulturelle Kolorit und die Auswirkungen dessen sind geradezu wichtiger als das Ergebnis oder das Erbe ihrer Entwicklungsgeschichte. Haratischwilis Roman ist in seiner Grundthematik generationenübergreifend – und auch darin ist die wahre Bedeutung dieses Romans versteckt.
Der tatsächliche Klimax ist aus diesen Gründen auch nicht das Ende des Romans, sondern eher der philosophische Ausgang der Gesamthandlung. Eine Konfrontation der beiden Figuren mit ihrem Selbst führt zu möglichen Lösungen, doch auch an dieser Stelle bleibt die Möglichkeit einer Interpretation vorhanden.
Der kritische Leser würde Haratischwili hier Schwäche vorwerfen – man betrachte jedoch erneut die Gesamthandlung, und das Argument ist zügig über Bord geworfen.
Ursprünglich hat mir das Ende der Handlung so wie konzipiert nicht gefallen (nicht aus inhaltlichen, sondern kompositorischen Gründen – um Spoiler zu vermeiden, verrate ich näheres nicht, wir können gerne in den Kommentaren darüber diskutieren!) – doch nach einiger Reflexion verstehe ich die Notwendigkeit für diese Art von Abschluss allzu gut. So, wie Haratischwili ihre Wahl getroffen hat, würde auch ich die grundlegenden moralphilosophischen Fragen ausklingen lassen.
Ich bin bereits gespannt auf meine nächste Erfahrung mit Haratischwilis Büchern. Die Katze und der General war ein in jeglicher Hinsicht herausragendes Leseerlebnis – ein wahrhaft großer Roman.
Habt ihr bereits Erfahrungen mit der Autorin, ihren Büchern oder Theaterstücken gemacht, und welchen Roman würdet ihr als nächstes empfehlen?
Bibliografie:
Titel: Die Katze und der General
Autor: Nino Haratischwili
Seitenzahl: 766
Erscheinungsdatum: 2018 (2. Aufl. 2020)
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
ISBN: 9783627002763
Die Katze und der General online bestellen bei: Thalia* bücher.de *
Du möchtest meinen Blog unterstützen?
Kaffeekasse via PayPal
Buchwunschliste auf Amazon
Sollte ein von mir besprochenes Buch Dir gefallen, hast Du die Möglichkeit, es über die mit * gekennzeichneten affiliate Links zu bestellen. Dadurch verdiene ich eine Kommission. Dir fallen keine Zusatzkosten an.
Vielen Dank!
Kategorien:Home, Neuerscheinungen
Kommentar verfassen