Der Krimiroman „Das Verschwinden der Erde“ von Julia Phillips besteht aus zwölf ineinandergreifenden Geschichten aus Kamtschatka – jede gefüllt mit kulturellem Nippes und Informationsperlen über das soziopolitische Klima in der Stadt Petropawlowsk sowie kleineren Dörfern und Gemeinden auf der Halbinsel.
Büßt die Erzählung jedoch wegen der Herkunft der Autorin an Authentizität ein?
Obwohl die Haupthandlung im Buch nach den Mustern eines Krimi verläuft, da zu Beginn der Handlung zwei junge Mädchen entführt werden, ergänzen zahlreiche autonome Geschichten die mysteriösen Geschehnisse um das Verschwinden von Sofija und Aljona. Die Handlung führt durch Petropawlowsk, Esso und andere kleinere Orte auf der Halbinsel.
Die geschilderten kulturellen Kontexte und Informationen zum grauen Alltag am Rande der Welt sind absolut faszinierend: Phillips zeigt starke Frauen, die sich gegen konservative Familienstrukturen, grenzwertige klimatische Umstände und grobe, egoistische Männer behaupten müssen. Sie sind junge Mütter, Wissenschaftlerinnen, Beamtinnen – und vor allem selbstbewusste Individuen.
„Ohnehin war Kamtschatka keine Gegend mehr, in der man eine Familie großziehen wollte. […] Die Gemeinden, in denen Rewmira aufgewachsen war, lösten sich auf, das machte es einfacher, sie zu vergessen, es waren Orte, die verschwanden.
Rewmiras Eltern hatten sie in einer starken Gemeinschaft erzogen, in einem idyllischen Dorf, mit Menschen, die noch Prinzipien hatten, in einer lebendigen ewenischen Tradition, einer sozialistischen Nation mit großen Errungenschaften. Diese Nation war zusammengebrochen, und an ihre Stelle war eine große Leere getreten.“ (162)

Obwohl der Text unglaublich spannend ist, wird es im Laufe des Romans immer anstrengender der Handlung zu folgen: Alle Figuren sind zwar auf eine eher lose Art miteinander verbunden (ihre Familien kennen einander, sie sind verschwägert, sie gingen zusammen zur Schule oder ähnliches – Kamtschatka ist nun wirklich kein großer Ort), und dennoch findet in den einzelnen Geschichten keine Annäherung statt, die es dem Leser ermöglichen würde, sich empathisch an eine Figur binden zu können. Auf den ersten Blick verhindert das die vollständige Wirkung des Romans.
Zum Ende der Handlung würde beispielsweise auch die ursprüngliche Investition in die verschwundenen Schwestern geradezu in Vergessenheit geraten, wenn nicht die anderen Figuren knapp und kurz über sie sprechen würden.
Auf den zweiten Blick ist die Vertiefung in Charakterbeschreibungen jedoch gar nicht das Ziel der Autorin. Vielmehr möchte sie auf die Diskriminierung der Urvölker, die Konflikte zwischen den Stammesvölkern und den eingewanderten Russen hinweisen. Die daraus entstehenden Probleme und Spannungen auf individueller Ebene werden von den einzelnen Erzählungen lediglich illustriert.
„Ewenen, Tschuktschen, Korjaken oder Aleuten. Ihre Großeltern waren stolz darauf gewesen, dass man die Ureinwohner der Halbinsel vereinigt hatte, sowjetisiert, indem man ihre Ländereien verstaatlicht, die Erwachsenen in Arbeitskollektive gesteckt und den Kindern in staatlichen Internaten die Marxistisch-Leninistische Ideologie eingetrichtert hatte.“ (258)
Wer auf eine derart wirkungsvolle Art schreiben kann, sollte ihren Figuren eigentlich nicht das Unrecht antun, sie nur flüchtig vorzustellen – und mit ihrer Handlung auch nicht so Abrupt zum Ende kommen wie Phillips dies getan hat. Sicherlich wurde das Wesentliche gesagt und die Geschichte in sich abgeschlossen – trotz dessen hätte es noch so viele spannende Seiten in diesem Roman geben können.
Andererseits sind die auf Kamtschatka herrschenden lokalkulturellen Probleme und sozipolitischen Konflikte Tatsachen, die sich schwer auf jede einzelne der beschriebenen Figuren auswirken. Der Dialog zwischen zwei Müttern am Ende des Romans über unterschiedliche Behandlung von der Polizei illustriert dies nur zu gut.
Historisch bedingte Konflikte zwischen den Urvölkern und den russischen Migranten erklären sich nach einer kurzen Recherche zur Geschichte der Halbinsel:
„Die Halbinsel Kamtschatka wurde von Kosaken auf ihren Streifzügen in den Osten Russlands im Jahre 1697 entdeckt. Da es hier vor allem sehr viele Zobel gab, wurde das Gebiet kurz darauf von Russland annektiert. Die dort lebenden Ureinwohner, die Korjaken, Itelmenen, Ewenen, Tschuktschen und Aleuten (Unangan), wurden blutig von russischen Kosaken unterworfen und fast ausgerottet.“
[…]
„[…] Brutalität und Erbarmungslosigkeit, mit der die russischen Kosaken die einheimische Bevölkerung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis auf ein Fünfzehntel dezimierten“ (1)
Bezüglich der Herkunft der Autorin und ihren offensichtlichen Status als Fremdkörper im kulturellen Kaleidoskop Kamtschatkas könnte man zunächst an der Gesamtauthentizität der Geschichte zweifeln. Die Autorin habe selber in einem Interview ihre Unsicherheit diesbezüglich geäußert. (2)
Die nordamerikanische Herkunft der Autorin schadet der Porträtierung der Tatsachen jedoch nicht im Geringsten. Nicht nur aufgrund der Geschichte der indigenen Völker Nordamerikas sind kulturhistorische Aspekte erster Hand zu berücksichtigen. Tatsächlich bestehen nicht nur starke kulturelle Ähnlichkeiten sondern sogar Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Itelmenen im Westen der Halbinsel mit den nordamerikanischen Indianern. (3) Ein sehr interessantes Detail, was zum Verständnis des Romans einiges beiträgt.
Der Debütroman von Julia Phillips ist schließlich weit komplexer und umfassender, als er auf den ersten Blick zu sein scheint. Die Geschichten aus dem Land der Vulkane (4) hallen noch eine ganze Weile nach dem Lesen in den Gedanken nach.
„Das Verschwinden der Erde“ ist ein starker und spannender, kulturell reflektierter Roman, der auf den zweiten Blick nur noch interessanter wird.
Bibliografie
Titel: Das Verschwinden der Erde
Autor: Julia Phillips
Seitenzahl: 376
Erscheinungsdatum: 22.01.2021
Verlag: dtv
ISBN: 978-3-423-28258-1
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(1) Wikipedia: Kamtschatka. Geschichte
(2) Bryce Alcock: A Kamchatka Story – or is it?
(3) Kamchatka.cc: Die Ureihwohner Kamtschatkas
(4) SWR: Kamtschatka. Ein höllisches Paradies
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