Der japanische Bestsellerautor Keiichirō Hirano hat zahlreiche Romane und Kurzgeschichtensammlungen veröffentlicht. Bereits der Debütroman Nisshoku, den Hirano 23-jährig verfasste, wurde 1998 mit dem renommierten Akutagawa-Preis ausgezeichnet. Sein neuester „Millionenbestseller“ „Das Leben eines Anderen“ ist der erste ins Deutsche übersetzte Roman.
An welchen Stellen punktet die existenzialistische Detektivgeschichte hoch – und warum entstehen dennoch Komplikationen bei der Lektüre?

Seit seinem erfolgreichen Debüt hat Keiichirō Hirano weitere prämierte Erfolgsromane veröffentlicht, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden.
Der Autor war im Jahr 2005 als Entsandter der japanischen Botschaft in Paris tätig und hat zu dieser Zeit zudem Vorlesungen in zahlreichen europäischen Städten gehalten.
Eine gewisse Anlehnung an europäische Kulturen ist im Roman „Das Leben eines Anderen“ durchaus zu bemerken, da beispielsweise die existenzialistischen Aspekte von Ovids „Metamorphosen“ vom Protagonisten untersucht werden.
Im Großen und Ganzen ist Hiranos Roman jedoch als klarer Repräsentant japanischer Literatur erkennbar.
Der sachlich-philosophische Erzählton, die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Brennpunkten, eine Affinität der Figuren zu Kunst und Musik sowie ab und an eingestreute psychologisch unheimliche Momente gestalten dieses Buch in den bekannten und geliebten Farben vieler japanischer Klassiker.
Dennoch begann meine persönliche Lesereise mit diesem Roman eher holprig: Schuld daran waren Probleme mit der Kontinuität des Textes.
Dies ist allerdings nicht dem Autor zu verschulden: Die mir von Vorablesen.de zur Verfügung gestellte Leseprobe dieses Romans beginnt nicht am Anfang der Handlung, sondern mit Kapitel 3 auf S. 43 – was zunächst gar nicht auffiel, da auch dieses Kapitel durchaus als Exposition wahrgenommen werden könnte. Erstmal war ich zu Beginn der Lektüre des eigentlichen Buchs dementsprechend verwirrt, da augenscheinlich eine andere Geschichte begann und es plötzlich um jemand anderen ging.
Über die Begründung dieser Kapitelwahl für den ersten Eindruck kann nur spekuliert werden. Allerdings startet die Leseprobe auf der Verlagsseite handelsüblich mit dem Beginn und Vorwort des Romans – sodass Lesende, die ihren ersten Eindruck dort gewinnen, keine solchen Beeinträchtigungen wie ich erfahren werden müssen.
„Doch in dieser Welt war das nicht mehr möglich;
er stellte es sich vor wie das Leben eines anderen Menschen,
in einer anderen Welt.“(185)
Auf der Handlungsebene geht es in diesem Roman um die Ermittlung nach einer vermissten Person, die entweder einen freiwilligen Identitätstausch vorgenommen hat, entführt oder brutal ermordet wurde.
Der Scheidungsanwalt Kido Akira erhält einen Anruf von einer ehemaligen Kundin, als deren zweiter Ehemann verstirbt. Es hat sich herausgestellt, dass weder der Name noch die Vergangenheit ihres Ehemannes tatsächlich ihm gehörte – und nun möchte Rie der echten Identität des ihr als Daisuke Taniguchi vertrauten Mannes auf den Grund gehen.
Gefallen Dir meine Inhalte?
Schenk‘ mir einen Kaffee!
Es folgt eine Ermittlung, eine spannende Reise in die Vergangenheiten mehrerer Identitäten und ausgetauschten Positionen in Familienregistern und Fotoalben. Mitunter schauen aus den dunklen Vergangenheitstiefen der Figuren die Stichpunkte Vergewaltigung und Mord, Boxer und Yakuza, Obdachlose und Geisteskrankheit entgegen.
Als ob die übernommene Familiengeschichte des zweiten Bruders einer verstrittenen Familie nicht interessant und komplex gewesen wäre, werden im Laufe des Romans mehrere Identitätswechsel aufgedeckt und verfolgt.
Der Aspekt des Detektivromans ist allerdings bei weitem nicht die interessanteste Facette dieser Geschichte.
Mit der nächsten Buchbestellung kannst Du diesen Blog unterstützen!
Meine Links* zu: genialokal.de * | Thalia * | bücher.de * | buch24.de *
Der Protagonist trägt selbst ein Stigma mit sich: Kido ist Zainichi, eine Bezeichnung für die Minderheit koreanischer Einwanderer, die die japanische Staatsbürgerschaft angenommen haben. Sie bilden nach den chinesischen Einwanderern die zweitgrößte ethnische Minderheit in Japan. (Wiki)
Ausländerfeindlichkeit, Xenophobie und die gnadenlose Verurteilung eines Individuums aufgrund einer Herkunft – sei diese aufgrund der nationalen Zugehörigkeit, des Berufs, der wirtschaftlichen Situation oder der Sünden der Eltern beeinträchtigt – bilden einen weiteren Themenkomplex, der den Protagonisten und die Auseinandersetzung mit seiner eigenen Identität gekonnt an die Suche nach Daisuke Taiguchi anbindet.
Vor allem ist es jedoch die große existenzialistische Frage nach dem Leben eines Anderen nicht nur im Sinne eines anderen Individuums, sondern im Sinne einer fremdkörperlichen Erfahrung und einer Existenz außerhalb der eigenen Entität, deren interpretatives Spektrum an Facetten Hirano in seinem Roman vollends ausnutzt.
Da die Erzählung im Jahr 2014 spielt – knapp 90 Jahre seit dem Großen Kantō-Erdbeben (1923) – bewegen der Jahrestag und die Erinnerung die Gesellschaft um Kido herum nicht nur zum Sinnieren, sondern zu Angst und Panik und zu einer apokalyptischen Grundstimmung. Ein weiteres Erdbeben wird mit zunehmender Nervosität erwartet.
Die irrationale Furcht vor den Zainichi vermehrt sich in diesem Bezug ebenso: Nach dem Großen Kantō-Erdbeben 1923 gab es Massaker aufgrund beweisloser Gerüchte, dass Koreaner Brände legen und Brunnen vergiften würden. Aus diesem historischen Kontext heraus heben Rechtsextremisten erneut ihren Kopf – und Kido muss sich des Öfteren feindliche Bemerkungen anhören.
„Manche malten sich schon den Untergang Japans aus,
nur konnte niemand vorhersagen,
wann dieser kommen würde.“(256)
Insofern sehnt auch Kido sich ab und an danach, das Leben eines anderen leben zu dürfen – und bemerkt immer wieder, dass die meisten ihn Umgebenden diesen Wunsch ebenso regelmäßig hegen. Beispielsweise, wie sich im Laufe der Lektüre herausstellt, auch seine Ehefrau.
Die Auswirkungen der elterlichen Identitätskrisen werden sowohl innerhalb der Familiendynamik von Kido als auch von Rie untersucht und in vielfältigen, spannenden Variationen ausgeführt.
So entsteht eine faszinierende moralphilosophische und existenzialistische Abhandlung, die die Möglichkeit eines ideologischen, sozialen und rechtlichen Identitätswechsels – sei dieser auf legalen oder illegalen Wegen, öffentlich oder privat vollzogen worden – aus zahlreichen Perspektiven durchleuchtet und so manch universalmenschliche Wahrheiten aus düsteren Begebenheiten und alltäglichen Berührungen herausarbeitet.
Keiichirō Hiranos „Das Leben eines Anderen“ ist zwar ein spannender Detektivroman – dennoch ist sein Wert gerade in der tiefgründigen philosophischen Ader seiner Figurendynamiken zu orten.
Dass die Gestaltung mancher Episoden kurzweilig ins Plakative rutscht (aus dem Anspruch spoilerfrei heraus grob formuliert – während eines gewissen Gefängnisbesuchs lehnt sich die Figurenpsychologie recht uninspiriert an Hannibal Lecter an; manche wenige Ereignisse erscheinen für die Handlung überflüssig zu bleiben) und dass das Erzähltempo eher ruhig als angespannt gestaltet wird, sollte zwecks einer ausführlichen und fairen Besprechung kurz erwähnt werden.
Allerdings stören die Entscheidungen bei den wenigen Figuren kaum – überdies führt die episodische reflexive Verlangsamung eher als Motivator zu interessanten Eigenreflexionen als zu entstehender Ungeduld.
Man:frau beginnt als Lesende:r, den von Kido gestellten Fragen aus persönlicher Perspektive auf den Grund zu gehen, da der Raum dafür aus der Verlangsamung geschaffen wird – und erzielt dadurch ein weit erhellenderes Leseerlebnis, als es aus einem gewöhnlichen Krimi oder dergleichen möglich wäre.
Wem der sachlich-ruhige Stil japanischer Literatur (mit kleinen Ausschweifungen ins Groteske und psychologisch Unheimliche) also zuspricht, wird in dieser Lektüre ein wahrhaft faszinierendes Leseerlebnis vorfinden.
Hier geht’s zur Leseprobe.
Bibliografie:
Titel: Das Leben eines Anderen
Autor:in: Keiichirō Hirano
Übs.:in: Nora Bierich
360 Seiten | 25,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 11.04.2022
Verlag: Suhrkamp
ISBN: 978-3-518-43055-2
Dein nächstes Buch über meine Links* bestellen und kostenlos diesen Blog unterstützen:
genialokal.de * | Thalia * | bücher.de * | buch24.de *
Mehr literarische Abenteuer:
Von Helden und Volksverrätern. Seikō Itō: „Das Romanverbot ist nur zu begrüßen“
Toxische Aussichten. Kim Hye–Jin: „Die Tochter“
Lesen | hören | verknüpfen: Sandra Falke im Netz
Du möchtest meinen Blog unterstützen?
Mit einer Spende über PayPal unterstützt Du die Pflege dieser Webseite
und trägst zur Entstehung neuer Inhalte bei.
Vielen Dank für Eure großzügige Unterstützung: Karl, Andreas, Sebastian und Anna.
Vielen Dank für Eure Unterstützung: Orsolya, Dominik, Vassiliki, Debbie, Sofie, Corina, Melanie, Anne, Jule, Sylvia, Boris, Friederike und Annika.
(durch Deine Bestellung über die mit * gekennzeichneten affiliate Links
oder die Werbebanner auf der rechten Seitenleiste
verdiene ich eine Kommission. Dir fallen keine Zusatzkosten an.)
Vielen Dank!
Kategorien:Home, Neuerscheinungen
Was mir oft bei japanischen Romanen auffällt, sind die seltsamen Verweise, Metaphern und Allegorien, die für mich aus dem Nichts in den Text hineinfließen, seltsam losgelöst bleiben, abrupt und ungeschönt. Das zeitigt sehr eigenartige Stimmungen von Verlorenheit – bspw. in Kenzaburo Oe „Eine persönliche Erfahrung“ – so richtig warm werde ich mit diesen Schreibweisen nicht. Ich werde in Hiranos Buch mal hineinschauen. Danke für den Tipp.
LikeGefällt 1 Person
Ich mochte den Roman von Oe ganz gerne. Definitiv ist japanische Literatur aber seltsam und mit zahlreichen Nuancen gefüllt, die unserer kulturellen Sozialisierung sehr fern bleiben. Ich persönlich bin Japan-Fan und studiere die Literatur daher gerne. Stimme allerdings zu, dass viele „Klassiker“ ohne vorab ihren Kontext zu kennen, sich wenig bis gar nicht erschließen.
Genau, schau mal in die Leseprobe, ich fand diesen Roman angenehm zu verdauen und europäisch getönt – nicht ganz Kazuo Ishiguro, aber auch definitiv nicht mehr Kobo Abe (Oder K. Oe).
LikeLike