Der tansanische Autor Abdulrazak Gurnah wurde im Sultanat Sansibar geboren, lebt und arbeitet jedoch in Großbritannien. Gurnah ist Professor Emeritus für englische und postkoloniale Literatur der University of Kent. Der Autor hat bisher zehn Romane sowie Kurzgeschichten und Essays veröffentlicht. Im Jahr 2021 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.
Warum ist die Entwicklungsgeschichte des zwölfjährigen Yusuf in „Das verlorene Paradies“ so schockierend – und was macht den indiskutablen Wert von Gurnahs Romanen aus?

Abdulrazak Gurnah erhielt den Nobelpreis für Literatur für „sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen in die Auswirkungen des Kolonialismus und des Flüchtlingsschicksals in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten“.
In seinem Roman „Das Verlorene Paradies“, der Entwicklungsgeschichte eines zwölfjährigen ostafrikanischen Jungen am Ende des 19. Jahrhunderts, sind diese Aspekte klar zu erkennen.
Der Roman wird aus Yusufs Perspektive geschildert und führt seinen Werdegang vom verängstigten, schmächtigen Jungen zum selbstständig denkenden jungen Mann hervorragend aus.
Sosehr der Protagonist allerdings zum Sympathieträger wird, sosehr lösen seine Umstände und sein Schicksal emotionale Erschütterungen aus.
Die Handlung schwenkt für einen Moment zu Yusufs zurückhaltendem familiären Milieu und zeigt den häuslichen Alltag eines kleinen Jungen, der das Essen seiner Mutter liebt, sich gerne vor seinen Hausarbeiten drückt und sich auf den Besuch eines wohlhabenden und großzügigen Onkels freut.
Bis Yusuf abrupt aus diesem Alltag gerissen und in ein fremdes Dorf mitgenommen wird – der Junge soll im Geschäft von „Onkel“ Aziz aushelfen, in dem eine klare Hackordnung sowie Umgangsformen herrschen.
Kurz nach dem Einleben im Geschäft wird Yusuf auf eine Karawanreise ins Landesinnere mitgenommen und muss sich nun täglich mit zunehmenden Gefahren auseinandersetzen.
Lebensgefahr droht täglich von der gnadenlosen Natur und von feindlichen Gemeinden an den meisten Orten, die die Kolonne durchqueren muss. Doch nicht nur tödliche Geschütze sind des Öfteren auf Yusuf gerichtet – Gefahr versprechen auch die leuchtenden Augen der anderen Männer in der Expedition, die ihm ständig lüsterne Blicke zuwerfen.
„Das Gebirge auf der anderen Seite des Sees bezeichnet das
Ende der Welt, die wir kennen. […] Den Osten und den Norden
kennen wir, bis hin nach China […] und zu den Wäldern von
Gog und Magog. Aber der Westen, das ist das Land der
Finsternis, das Land der Dschinns und Ungeheuer.“(111)
Wie die extremen Zustände der durchwanderten Natur beschrieben werden, lässt bereits an einigen Stellen schaudern und innerhalten – die Expedition muss z. T. tagelang in lebensgefährlichen Konditionen unterwegs sein, um zu ihren Zielen zu gelangen. Nicht alle überleben die Reise.
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Dennoch erscheint auf dem Horizont die grausamste Drohung von allen: der Europäer. In einigen Unterhaltungen wird vor allem auf den Deutschen als effiziente und gnadenlose Kriegsmaschine hingewiesen, doch heißt es auch, dass niemand so konsequent Krieg führe wie die Europäer.
Bereits in der Exposition wird eine kurze Begegnung geschildert, die Angst und Schrecken auslösen soll. Zwei weitere Berührungen mit den deutschen Truppen kommen im Roman vor. Eine von ihnen zeigt die Kolonisatoren in einem positiven, die andere in einem negativen Licht. Eine weitere Erläuterung würde allerdings zu viel zum Inhalt der Geschichte verraten.
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Die Hervorhebung von Humor und Leichtigkeit im Klappentext muss mit Vorbehalt interpretiert werden – so fließend und faszinierend diese Geschichte zu lesen ist, beinhaltet sie mehr Ironie als Humor; mehr Lethargie als Leichtigkeit.
Sicherlich werden die Dialoge mit einer gewissen Leichtigkeit geführt – ein frivoler Humor zwischen Männern, die eine innige Beziehung zu ihrem Genital haben und gerne über ihre Eroberungen sprechen, prägt den Ton des Alltags, da ohne Witz und Ulk die schmerzenden Schultern unerträglich wären.
Allerdings stehen im Vordergrund Verluste und menschliches Leiden, ein einerseits von Geldgier, andererseits von religiösem Eifer geprägtes Weltbild und eine misogyne Gesellschaft, in der sklavenhafte Unterwerfung sowie der Verkauf von Kindern zur Deckung von Schulden als normal empfunden wird.
Sachverhalte, die vor den unerbittlichen Taten der europäischen Truppen wiederum vollständig verblassen.
„Angesichts solchen Leids wollte er am liebsten sterben.
Nie hatte er Derartiges erlebt oder sich auch nur vorgestellt.“(166)
Dass diese Episoden, Personen und Tatsachen zu einer authentischen Schilderung der Umstände in Ostafrika am Ende des 19. Jahrhunderts beitragen und enorm wichtig für die realistische Porträtierung dieser Zeit sind, steht indiskutabel fest.
Doch sollten Lesende, die eine witzige Geschichte aus Afrika erwarten –
(Warum würde jemand eine solche Geschichte erwarten, die zeitliche Zuordnung und das historische Material kennend? Weil der Klappentext Humor und Leichtigkeit verspricht und erst der innere Klappentext den Kontext der Handlung verrät.)
– ein anderes Buch wählen.
Die Komplexität der innenpolitischen Wechselwirkungen und die Beziehungen zwischen Sultanen, Kaufmännern und Königen; Häuptlingen, Geistlichen und Immigranten, die in Sansibar aufeinandertreffen, ist faszinierend – und wird auf eine ambivalente Art und Weise ausgeführt, die eine Sammlung der Arten von Feindseligkeit zwischen gesellschaftlichen Gruppen, Religionen, Herkunftsorten und Gesellschaften durchleuchtet.
An dieser Stelle muss die editorische und übersetzerische Arbeit gelobt werden: dem Roman wurde ein umfangreiches Glossar angehängt, welches die Herkunft, Bedeutung und so manche interessante Kontexte vieler Wörter, Personen und Begriffe erklärt.
Ebenso wurde in einer editorischen Notiz darauf hingewiesen, dass gewisse Wörter („Wilder“, Eingeborene“, „Kaffer) in der Figurenrede für eine unverfälschte Darstellung des Geschriebenen angewandt werden sollen.
Meine einzige Kritik an dem Roman besteht darin, dass diese editorische Notiz nicht vor dem Text platziert wurde. Dennoch ist die Herangehensweise vorbildlich und löblich.
„Und wer lebt in diesem Paradies? Wilde und Diebe,
die unschuldige Händler berauben und ihre eigenen Brüder
für irgendwelchen Krimskrams verschachern.“(236)
„Das verlorene Paradies“ zeigt eine mit Blut, Ungerechtigkeit und entsetzlichen Lebensumständen gefüllte gnadenlose Landschaft, in der ein Kind sich weder sicher noch geborgen fühlen kann. Zeitgleich handelt es sich um einen unglaublich spannenden, komplexen Gesellschafts- und Entwicklungsroman, der sowohl ein vielfältiges Bild der innenpolitischen Umstände in Ostafrika als auch eine wichtige Perspektive auf die Auswirkungen des europäischen Kolonialismus wirft.
Kompositorisch, inhaltlich und stilistisch ist dieser Roman von Abdulrazak Gurnah ein hervorragendes Exemplar der Weltliteratur und vergrößert meinerseits nur das Interesse an weiteren Lektüren des Autors.
Für diejenigen, die sich für Weltgeschichte oder Anthropologie interessieren, bietet „Das verlorene Paradies“ sicherlich ebenso ein gehaltvolles und spannendes Leseerlebnis.
Hier geht’s zur Leseprobe.
Bibliografie:
Titel: Das verlorene Paradies
Autor:in: Abdulrazak Gurnah
Übs.:in: Inge Leipold
336 Seiten | 25,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 08.12.2021
Verlag: Penguin
ISBN: 978-3-328-60258-3
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Von den kulturpolitischen Aspekten ganz abgesehen, die ich völlig unterstütze, finde ich doch, dass der Stil seltsam unausgewogen ist. Teilweise wird überfrachtend beschrieben, voller Details, an vielen Stellen wird einfach darüber hinweg gehuscht. Ich habe das ein wenig in meiner Rezension analysiert. Das Buch hat mich teilweise erschreckt, nicht vom Inhalt, aber darüber, wie beschrieben wird. Schockierend sind die Umstände jedenfalls – aber die innere Spannung des Buches ergibt sich auch daraus, dass der Protagonist sich den Kolonisatoren anschließt, ein Fremder zwischen allen Welten. Gurnah mit Frantz Fanon parallel zu lesen, fand ich sehr ergiebig. Vielleicht hat mich das Buch auch nur auf den falschen Fuß erwischt. Ich werde sicherlich irgendwann ein weiteres Buch von ihm lesen. Viele Grüße!
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Ich fand die stilistischen Aspekte kohärent und flüssig, sosehr inhaltlich erschreckende Passagen inbegriffen waren. Es erhöht nunmehr die Authentizität vom Milieu, meines Erachtens. Die moralischen Auswirkungen der Schluss-Entscheidung stehen nicht fest, da der Roman endet, insofern beziehe ich sie nicht in meine Eindrücke – ebenso aus dem Wunsch, Spoiler zu vermeiden. Meine Rezension soll ja erstmal Interesse wecken – insofern sie positiv ausfällt.
Hast Du die neue, überarbeitete Ausgabe gelesen?
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Ja, ich habe die neuere Version gelesen. Das Kompendium fand ich auch sehr gut. Ich wollte nicht spoilern – vielleicht löscht du meinen Kommentar. Ich meine aber fast, dass es bei diesen Werken eigentlich unmöglich ist zu spoilern. Die Empfindung beim Lesen ist ja nicht rein Plot getrieben. Nun, die Passagen, die ich meine, haben jedenfalls meinen Lesefluss irritiert. Ich habe vor allem die Entfremdung herausgelesen, aber auch den eigenen Ton vermisst. Ich war von Le Clézios „Wüste“ mehr mitgerissen, obwohl teilweise ultrakitschig, doch wie die Protagonistin nach Frankreich flüchtet, und was ihr geschieht, ist mir noch Jahre im Gedächtnis geblieben. Yusuf, fürchte, wird für mich stets etwas gesichtslos bleiben. Ich erinnere mich aber, dass dir „Klara und die Sonne“ nicht gefallen hat (mein Leseereignis des Jahres) – da sieht man immer, wie anders Bücher wahrgenommen werden können. So bleibt alles spannend. Empfiehlst du ein anders Buch mit ähnlicher Thematik wie „Das verlorene Paradies“?
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Wirklich sehr spannend, „Wüste“ hat mich z.T. sehr zur Langeweile getrieben 😃
Ich habe bei der Lektüre ab und zu an Chinua Achebe und Khaled Hosseini gedacht. So ganz gleich ist natürlich weder noch.
Ich denke, dass diejenigen, die in die Kommentare schauen, schon gespoilert sind – es bezog sich lediglich auf einige inhaltliche Entscheidungen im Beitragstext.
Lieben Gruß 🙂
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