Geschichten aus Edelholz. Abdulrazak Gurnah: „Ferne Gestade“

Der tansanische Autor Abdulrazak Gurnah wurde im Sultanat Sansibar geboren, lebt und arbeitet jedoch in Großbritannien. Gurnah ist Professor Emeritus für englische und postkoloniale Literatur der University of Kent. Der Autor hat bisher zehn Romane sowie Kurzgeschichten und Essays veröffentlicht. Im Jahr 2021 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.

Gurnahs Roman „Das verlorene Paradies“ wurde bereits in diesem Blog besprochen (Link).

Warum wird die unbestreitbar außergewöhnliche Authentizität von Gurnahs Roman „Ferne Gestade“ ihm gleichzeitig zum Verhängnis?


© Penguin Random House

Abdulrazak Gurnahs neu erschienener Roman „Ferne Gestade“ (By the Sea, 2002), übersetzt von Thomas Brückner, handelt von Fernweh, Flucht, Außenseitertum – und einem hochgradig komplexen Konflikt zwischen zwei Familien, der Generationenübergreifenden Hass für Dekaden gedeihen lässt.


Der erste Themenkomplex wird als fesselnde Rahmenhandlung verlockend ausgelegt, als Saleh Omar auf dem Flughafen Gatwick in England landet und um Asyl bittet.

Wie heißt dieser alte geheimnisvolle Mann wirklich – und warum ist eine kleine Mahagonischachtel mit Weihrauch in seinem Gepäck so wertvoll?

Wie Saleh das befremdliche neue Umfeld auf sich wirken lässt, seine Vergangenheit zu überwinden versucht und unerwartet damit konfrontiert wird, komponiert und beschreibt Gurnah auf eine interessante Art und Weise.

Doch plötzlich stellt der Autor die Geduld seiner Leserschaft mit der zweiten Handlungslinie ordentlich auf die Probe.


Manchmal glaube ich, dass es mein Schicksal ist,
in den Trümmern und dem Durcheinander
zerfallender Häuser zu leben.“(6)


Obgleich der Protagonist auf Anhieb zum Sympathieträger wird und seine ungemütlichen ersten Tage in England zugleich Unbehagen und Hoffnung erwecken, stellt ein plötzlicher Perspektivenwechsel alle erhaltenen Informationen und bisher vertrauenswürdig erschienene Personen in ein Spektrum von Grautönen.

Lesende erfahren nach und nach, warum Saleh eigentlich geflüchtet ist – und die Wahrheit deckt sich nur zum Teil mit seinen Schilderungen.


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Nach langer Reflexion über Gurnahs Methoden und Entscheidungen könnten optimistische Interpretationen „Ferne Gestade“ als kompositorisch gekonnt rühmen, auf einer Figurenebene als überragend vielschichtig, hinsichtlich der Handlungslinien als Leser*innen stets auf den Zehenspitzen haltend.

Unglücklicherweise lassen langatmige Dialoge und Wiederholungen des Geschehenen diesen Eindruck sich bei der tatsächlichen Lektüre nicht entfalten.


Sind Ihnen die unglaublichen Auswirkungen
von Familienstreitereien in der Geschichte
islamischer Gesellschaften aufgefallen?(324)


Ob obiges Zitat als eine gesunde Selbstkritik oder Bestätigung der eigenen Authentizität fungieren soll, bleibt interpretativ offen. Fakt ist, dass Gurnah die Vergangenheit von Omar Saleh in einem verknoteten hin-und-her entfaltet und Lesenden eine in Spiralen fortgeführte, scheinbar endlose Auflösung für eine bereits ohne ewige Verwicklungen interessante Angelegenheit bietet.


Ohne inhaltlich weiteres spoilern zu wollen, kann ich nur beteuern, dass Gurnahs Roman einen reichhaltigen erzählerischen Boden darlegt, auf dem ohne Mühen zwei Geschichten hätten wachsen können. Jedoch beginnt der Autor mit einer Perspektive, lässt die Geschichte im zweiten Drittel aus einer anderen Perspektive weiterlaufen – und verheddert sich dann in für die Gesamthandlung insignifikanten Kleinigkeiten, die an uninteressanten Nebenfiguren hängen.

Dass der Ausklang eng zum Auftakt gebunden ist und ein recht künstlich herbeigeführter Aha-Moment schließlich stattfindet, bindet die Komposition des Romans am Ende erneut zusammen – und reiht Figurenschicksale nacheinander auf, um keine offenen Fragen zu hinterlassen. Im letzten Viertel werden die komplexen Handlungslinien vollständig zusammengebunden und der Beginn des Romans wird ausgewogen.


Und doch verbleibt das Gefühl einer hölzernen Bearbeitung – hier werden diejenigen, die die Lektüre erfolgreich hinter sich gebracht haben, den Wink mit dem Zaunpfahl und den Hinweis an Möbelgeschäfte und einem kleinen Tischchen erkennen –, einer Geschichte, die sich immer nur um sich selbst dreht und ihre Spannung im Detail verliert.

Dies, obwohl die vermeintliche Kerngeschichte mit analytischem Blick stets in der Komposition wiederentdeckt werden kann. Dennoch hat Gurnah die Aufmerksamkeit seiner Leser*innen aus meiner Sicht so weit in die Ferne getrieben, dass es für ein ausdauerndes Interesse an Synapsen und Sekunden und Protokollen des „wesentlichen, großen Ereignisses“ an Griffkraft fehlt.


Schade.

An sich ist Gurnahs Roman also eine ausbalancierte, komplexe Erzählung mit vielen Überraschungen, einigen enorm intensiven Momenten – und einer unerwarteten Anzahl an Perspektiven auf das scheinbar gleiche Ereignis.

Konzentriert man*frau sich voll und ganz aufs Erzählerische, lässt sich im Sprachlichen versinken und bringt genügend Geduld auf, um in die kleinsten Nuancen und Variationen eines Familienkonflikts einzusteigen, könnte „Ferne Gestade“ mit einigen Abzügen von Interesse sein.


Ungefähr zweihundertfünfzig von vierhundert Seiten dieser Lektüre waren durchaus fesselnd und genussvoll. Ob dies eine Bilanz mit Gewinn ist, muss jede*r schlussendlich für sich entscheiden.

Meinerseits habe ich mit dem Autor fürs Erste abgeschlossen und empfehle vorrangig die Lektüre von „Das verlorene Paradies“, welches mich durchgehend intensiv gefesselt hat.

Hier geht’s zur Leseprobe von „Ferne Gestade“.

Bibliografie:

Titel: Ferne Gestade
Autor*in: Abdulrazak Gurnah
Übs.*in: Thomas Brückner

416 Seiten | 26,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 14.03.2022
Verlag: Penguin Random House
ISBN: 978-3-328-60260-6

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  1. Das ist sehr interessant – exakt was du über „Ferne Gestade“ schreibt, empfinde ich bereits im „Das verlorene Paradies“, und zwar wortwörtlich. Es gibt außergewöhnlich intensive Stellen, in denen sich alles verdichtet, aus denen sich so viel herausspinnen lassen könnte, wie das Leben im Haus des Händlers, das Kennenlernen der eingesperrten Frauen, oder wie der Protagonist die Religion kennenlernt. Aber alles verbleibt anekdotisch und nur, für mich, analytisch komponiert, wie auf dem Reißbrett. Ich unterstelle wahrscheinlich zu Unrecht Kopflastigkeit – von „Ferne Gestade“ werde ich die Finger lassen. Deine Besprechung hat mich sehr in meinem Leseeindruck bestärkt, und ich bedauere es noch immer, dass dieses eigentlich interessante Buch beim Lesen inhaltlich und formalästhetisch so auseinandergegangen ist. Viele Grüße! Und danke für die schöne Besprechung.

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