Die belgische Autorin Amélie Nothomb (* 1967) verbrachte ihre Kindheit und Jugend als Tochter eines Diplomaten hauptsächlich in Fernost – derzeit lebt sie jedoch in Brüssel und Paris. Nothombs unverwechselbarer Humor, ihre spannenden Geschichten aus den bösesten Ecken der menschlichen Psyche, die Verknüpfung bekannter Fabeln, Mythen und Märchen mit autobiografischen Episoden – dies sind nur einige faszinierende Aspekte dieser fabelhaften Autorin.
Kann Nothombs neuer Roman „Ambivalenz“ mit ihren bisherigen Bestsellern mithalten – und welchen Zusammenhang hat der mysteriöse Titel mit der Geschichte?

Amélie Nothombs veröffentlichtes Gesamtwerk besteht aus über zwanzig Romanen – geschrieben habe die Belgierin jedoch das Dreifache.
Ihre schlanken Bücher beschäftigen sich mit autobiografischen Momenten, obduzieren mit Finesse und Humor die psychologischen Grundstoffe der Menschlichkeit – und besitzen immer einen köstlich bösen Blick auf die schwächen und Mängel von Frauen und Männern.
„Ambivalenz“ (Les prénoms épicènes, 2018), aus dem Französischen übersetzt von Brigitte Große, ist einerseits eine tragikomische Befreiungsgeschichte über Liebe, Rache und Vergeltung.
Andererseits beschäftigt die Autorin sich mit Vater-Tochter-Dynamiken und dem Wert von gesellschaftlichem Ansehen.
Als die schöne Reine Claude für den erfolgreicheren Jean-Louis verlässt, schwört Claude, sich an Reine zu rächen. Er verführt die naive Dominique und beginnt ein raffiniertes Lügenkonstrukt zu errichten, um seinen großen Racheplan makellos auszuführen.
Alles verläuft nach Plan – bis nichts mehr nach Plan verläuft.
Offen bleibt bis zum bitteren Ende, ob Claudes schlimmster Fehler gewesen ist, Dominique, Reine – oder seine eigene Tochter vollständig zu unterschätzen. Denn alle dieser drei Frauen werden ihm schließlich zum unerwarteten Verhängnis.
„Es ist der neutralste Name der Welt.“(31)
Obwohl der Titel „Ambivalenz“ für die deutschsprachige Übersetzung gut gewählt ist und – ohne inhaltliches spoilern zu wollen – die Entscheidungen und Motive aller Figuren prägt, weist der Originaltitel auf die Idee eines Nachkommens als neutrale und charakterlose Person (also vollständig egozentrische Konsequenz des Selbst), die die Eltern – viele Eltern – kreieren wollen.
Claude und Dominique nennen ihre Tochter Épicène – dies ist eine Bezeichnung für Substantive, die geschlechtsneutral sind. Epizänische Substantive (in der Linguistik auch im Deutschen als „Epicene“ bezeichnet) haben nur ein Wort für beide Geschlechter, beispielsweise Kind, Partner, Person usw.
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Folgt man der Handlung nach den Motiven von Claude, wäre in dieser Benennung der Wunsch zur Geschlechts- und Individualitätslosigkeit seiner Tochter verborgen. Andererseits bietet sich aus der Figurendynamik mit der Mutter eine Interpretation an, die dem Kind einen aus ihren geschlechtlichen Grenzen hinauswachsende Karriere im Leben und im Beruf wünscht – da Mutter und Tochter einander lieben.
Allerdings wird eine Ambivalenz der Taten und Worte Claudes in vielerlei Hinsicht erkennbar, insofern man:frau analysiert, was er in eigenen Worten im Leben erreichen möchte – und auf welchen Wegen er diese Ziele verfolgt.
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Ironischerweise liegt die interessante Seite der Handlung nie bei Claude: eher sind die Beziehungen zwischen Mutter und Tochter, zwischen von ihm als Rivalinnen nebeneinandergestellten schönen, erfolgreichen Frauen, als faszinierend und facettenreich hervorzuheben.
Auch wenn Claude sich selbst in dieser Geschichte als Protagonist betrachtet – ganz klar ist er es nie gewesen, was dem Roman eine weitere charismatische und raffiniert gelöste Interpretationsebene verleiht.
Geradezu nebensächlich erscheint zunächst die wechselhafte Mutter-Tochter-Beziehung, die zum Schluss des Romans allerdings an Aufmerksamkeit gewinnt, sobald Claudes böse Pläne ans Licht kommen.
Ebenso erfahren Lesende unerwartet viel über die Gedanken der Tochter, die bereits seit ihrem fünften Lebensjahr eine überdurchschnittliche Auffassungsgabe und psychologische Entwicklung zutage bringt.
„Er hasst mich seit meiner Geburt. Er ermordet mich nicht,
weil es gesetzlich verboten ist.
Aber er erfindet andere Methoden, mich zu töten.“(56)
Dass schließlich tatsächlich eher die Ambivalenz von Ansehen und Glück, von Schönheit und Liebe, von Träumen und Realität in diesem Roman eine zentrale Rolle spielt, wenn man das Äußere und das Innere der Hauptfiguren gegenüberstellt, soll als Lob für die Übersetzerin und interessante Tatsache zum Roman betont werden.
Die beiläufige Behandlung von Nebenhandlungen wie Épicènes ambivalente Freundschaft mit Samira, die ab einem gewissen Punkt auf der „falschen“ Flussseite lebt (vergeudetes Potential einer aufblühenden queeren Liebe), oder die Möglichkeit einer konfliktfreien Zuflucht bei Dominiques Eltern – deren Realität sich in der zweiten Hälfte ihres Lebens gar nicht zu ändert haben scheint – müssen bei einem solchen Roman als normale Verluste akzeptiert werden.
Nothomb mischt in ihren Geschichten oft Ideen, Begriffe und Konzepte durcheinander, die von aufmerksamen Lesenden als Inspiration für weitere Reflexionen zu den einzelnen Figuren aufgeschnappt werden können.
Ihre schlanken Bücher schöpfen ihr volles Potential eigentlich nie aus – was aus meiner Sicht das Gespräch nach der Lektüre nur noch interessanter macht.
Langjährige Fans von Amélie Nothomb werden auch in „Ambivalenz“ einen humorvollen, tiefsinnigen Roman mit gnadenloser Entblößung menschlicher Bosheit finden – und vor allem eine faszinierende Geschichte mit zahlreichen klugen Indizien, die eine lange Reflexion des dünnen Buchs ermöglichen.
Wer die Autorin noch nicht kennt, dem sei wärmstens mein neues Video zur Autorin und Lieblingsbüchern empfohlen:
Hier geht’s zur Leseprobe.
Bibliografie:
Titel: Ambivalenz
Autor:in: Amélie Nothomb
Übs.:in: Brigitte Große
128 Seiten | 20,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 22.06.2022
Verlag: diogenes
ISBN: 978-3-257-07194-8
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