Literarische Abenteuer. Die fabelhafte Welt der Amélie Nothomb

Die belgische Schriftstellerin Amélie Nothomb kann mittlerweile zurecht als Phänomen bezeichnet werden: die Autorin veröffentlicht jährlich Romane, die ausnahmslos begeistern – und in gleichem Maße Furore auslösen.

Nachdem ich begonnen habe, mich mit ihrem Werk bekannt zu machen, kann ich die Popularität der Autorin gut begreifen und möchte auch euch für diese interessante Person und Erzählerin begeistern.

Nothombs Lebenslauf bietet bereits zahlreiche Möglichkeiten für außerordentliche Geschichten: als Tochter des belgischen Diplomaten Baron Patrick Nothomb hat die Autorin bereits im jungen Alter an diversen Orten gelebt: Japan, China, New York, Burma, Laos… erst im Alter von 17 Jahren kam Nothomb erstmals nach Europa und kehrte nach ihrem Studium wieder nach Japan zurück.

Eine schon auf faktischer Basis spannende Biografie. In Romanen lassen sich die Episoden nach und nach bearbeiten. Weiterhin hat die Autorin noch vieles zu sagen.

Hier sind einige Eindrücke aus den ersten drei Romanen, über die ich Nothomb kennengelernt habe.

nothomb biografie d hungersBiografie des Hungers (Biographie de la faim, 2004)

Nothomb setzt in ihren Lesern eine gewisse Ähnlichkeit und eine gewisse Empathie voraus. Ebenso erwartet sie eine grundlegende Neugier für alles. So beginnt die Biografie mit philosophischen Anmerkungen zum Hunger als Phänomen an sich, und über Naturvölker, die uns bekannte Begriffe wie Lust, Hunger, Ego und Identität im Sinne ihrer Bedeutungsfelder vollständig unterschiedlich verstehen und daraus resultierend in ihrem normalen Alltag für uns fremdartig oder gar unverständlich und absurd handeln.

Interessant und makaber schafft Nothomb es, bereits auf den ersten zwanzig Seiten ihrer Romane zu sein. Die Überraschung wartet jedoch meistens im letzten Drittel der Erzählung.

Aus dem anthropologischen Exkurs wird im autobiografischen Stil über Nothombs Jugend und ihre Antipathie zum Hunger als Ausdruck ihres existentiellen Nihilismus ausgeführt. Nun mischen sich die traumatisierte Persönlichkeit eines jungen Mädchens mit intellektuelle anspruchsvollen existentiellen Themen.

Nachdem das junge Mädchen unfreiwillig ihren Körper hergeben muss, schmelzen die Themenfelder zum Ende des Romans zusammen und eine kritische Reflexion nimmt ihren Lauf – bis der Roman dann plötzlich endet.

Biografie ist nicht eine Erzählung, die sich dem Leser sofort erschließt, man muss für den eigenen erfolgreichen Konsum und eine Leseerfahrung arbeiten. Erfüllt man die von Nothomb gesetzten Voraussetzungen, wird es eine genussvolle Begegnung. Jedoch würde ich mit diesem Roman die Nothomb-Entdeckungsreise nicht beginnen.

12-03 Nothomb ProfessorDer Professor (Les Catilinaires 1995)

Eine komische Geschichte mit unerwartetem Ausgang. Ein älteres Ehepaar erwirbt ein Haus mitten im Wald, um den Herbst ihrer Leben in Zweisamkeit zu verbringen. Die Idylle wäre vollständig – doch dann klopft der Nachbar pünktlich zur vollen Stunde an die Tür.

Die satirisch-grotesken Elemente erinnern an Dürrenmatt wie auch die graduell intensivierten Ergänzungen in der Geschichte, die plötzlichen erzählerischen Wendungen und Überraschungen, die die Handlung immer mehr in Richtung des Gruseligen und Unheimlichen bewegen.

Wie aus einem Professor ein Mörder wird, kann man in dieser scharfsinnigen Satire erfahren, ebenso wie die Konfrontation mit sich selbst und seiner eigenen Lebensrealität so manches Individuum zum Selbstmord zwingen kann.

Eine wunderbare Geschichte voller Nervenkitzel und Witz, die ich zu lesen als sehr genussvoll empfand.

Bedauerlicherweise kann über diesen Roman nicht viel verraten werden, da es einem klassischen Krimi ähnlich relativ schnell, kompakt und in sich geschlossen ist – ein Kommentar zu einer Nuance würde die Pointe hergeben. Jedoch würde ich diesen Roman von den bisher gelesenen am ehesten empfehlen.

metaphysik-der-roehren-9783257233995Metaphysik der Röhren (Métaphysique des tubes, 2000)

Auch in diesem Roman vermischen sich existentialistische Reflexionen mit autobiografischen Schilderungen aus der Kindheit der Autorin. Das Konzept einer Röhre und eines Menschen als Röhre, ständiger Ort des sich fortbewegenden und weiterentwickelnden Konsums von Essen, Luft, Emotionen und Eindrücken.

Nothomb sieht sich bereits als Mädchen als passives Individuum, und obgleich die vergötternden Liebkosungen ihres japanischen Kindermädchens ihr eine teils sehr glückliche Jugend und ein Gefühl der Verborgenheit verleihen, werden diese Illusionen ebenso schnell zerstört.

Der scheinbare Fokus dieses Romans sind die existentialistischen Interpretations-möglichkeiten von menschlichen Grundfunktionen und der Stellung des Menschen in einer Gesellschaft. Aus der Perspektive eines zwei- und dreijährigen Mädchens lassen sich kritische Aspekte unserer Zeit relativ einfarbig beleuchten und gestalten den Roman als provokativ mit der bestehenden Möglichkeit einer Apologie.

Obwohl die Protagonistin ihrer Umwelt mit einem pragmatisch-kritischen Blick begegnet, hat sie keine Macht über das, was mit ihr passiert – da nur ein Kind, ist ihr erlaubt mehr zu sagen und zu denken, als ein zurechnungsfähiges Individuum sich trauen würde. Daher könnte hier argumentiert werden, dass Nothombs Ansätze zur Kulturkritik bezüglich Japan sehr naiv formuliert sind – andererseits sind wir hier am Anfang ihrer Karriere, und die Protagonistin ist erst dreijährig.

Daher kann ich abschließend nur hinzufügen, dass ich in den einzigartigen und eigentümlichen, scharfsinnigen, seltsamen und humoristischen Reflexionen und Ausführungen in den Werken von Amélie Nothomb bis jetzt viel Lesenswertes gefunden habe und auf weitere Romane von ihr sehr gespannt bin.

Kennt ihr die Autorin bereits und habt ihr einen Lieblingsroman von Nothomb?

(Fotos von Diogenes Verlag, Instagram und Amazon)



Kategorien:Home, Neuerscheinungen

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  1. Klingt sehr interessant 😃 Werde mir auf jedenfall eines dieser Romane mal geben 🤗📚📖

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