Literarische Abenteuer. Amélie Nothomb: „Klopf an dein Herz“

© Arianna Jadé

Die scharfsinnigen Romane der belgischen Autorin Amélie Nothomb sind nicht nur psychologisch provokativ, sondern auch intellektuell herausfordernd. Die Autorin untersucht gerne das Böse im Menschen und betrachtet bekannte Ideen aus unerwarteten Perspektiven.

Im neuen Roman „Klopf an dein Herz“ zeigt Nothomb sich von ihrer zärtlichsten Seite – und löst dennoch tiefstes Unbehagen aus.


© Diogenes

Meine Faszination für die Autorin teilte ich bereits in früheren Beiträgen: hier und hier habe ich vor allem die Romane „Der Professor“ (Les Catilinaires, 1995) und „Böses Mädchen“ (Antéchrista, 2003) mit Begeisterung beschrieben und andere ihrer Werke vorgestellt.

Die Nothomb-Ecke meines Bücherregals beinhaltet weitere Juwelen, die ich bei Gelegenheit noch besprechen werde.

„Klopf an dein Herz“ (Frappe-toi le cœur, 2017) behandelt das zerstörende Potential selbstbezogener Mütter, die ihren Kindern durch den Entzug von Zuneigung oder Anerkennung lebenslänglichen Schaden hinzufügen können.

Die Mutter der Protagonistin Diane schenkt ihr von ihrer Geburt an weder Zuneigung oder Liebkosungen noch Aufmerksamkeit, obwohl die Kleine sie regelrecht (und wortwörtlich) vergöttert.

Genau einmal nimmt Dianes Mutter sie liebevoll in den Arm – ein unvergleichliches Erlebnis für das Kleinkind:


Aber was sie in den Armen ihrer Mutter empfunden hatte, war etwas völlig anderes, es grenzte an Magie: eine Macht, die sie erhob, erstarren ließ, vor Glück zermalmte.(27)


Diane hört in dieser Nacht das Herz der Mutter laut schlagen und ist dadurch von ihrer Gegenliebe überzeugt. In ihrem kindlichen Wohlwollen findet sie immer wieder Begründungen, warum die ‚Göttin‘ ihr keine weitere Zuneigung schenken kann.

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Allerdings kommt dem Mädchen gar keine Schuld an ihrer unseligen Lage zu – ihre Mutter ist schlicht und ergreifend eine von Neid und Eifersucht durchdrungene Person, der es nur um sich selbst geht. Als Diane dies klar wird, ändert sich ihre Einstellung:


Um die anderen zu täuschen, herzte Diane Célia, so gut sie konnte, und niemand merkte, dass gerade ihre Kindheit gestorben war.“(49)


Trotz des Kummers und der Ablehnung ihrer Mutter wird aus Diane eine großzügige und aufrichtige Person: Sie setzt ihren Fokus auf das Lernen, beobachtet ihre Schulkamerad:innen und deren emotionale Entwicklung mit einer sachlichen Distanz – und behält ihr eigenes Herz für sich.

Im Medizinstudium strebt Diane die Position einer Kardiologin an – sie möchte sich der Heilung von Herzen anderer widmen. In der Dozentin Olivia findet sie auf den ersten Blick eine Freundin und Gleichgesinnte, die ihr sowohl akademisch als auch emotional eine Stütze und einen Ausgleich bietet.

Derweilen bahnt sich eine weitere, unermessliche Enttäuschung an.


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Nothomb verwendet in ihrer Erzählung mehrere komplexe Doppelgänger-Modelle. Parallelen in der Namengebung, den Manierismen und den pädagogischen Überzeugungen führen zu spannenden Vergleichen in Bezug zu Dianas Person und denjenigen Menschentypen, zu denen sie sich hingezogen führt.

Die Folgenden Ereignisse, die schlussendlich zur Katastrophe führen, projizieren einerseits eine potenzielle negative Entwicklung von Diane unter extremen Bedingungen, heben ihre ethische Intaktheit jedoch umso mehr in den Vordergrund. Diane ist scheinbar die einzige Hauptfigur, die sich von Neid, Ambitionen und Eifersucht nicht bezwingen lässt.

Die Herausforderungen lauten mit Dianes akademischen Erfolgen noch lange nicht aus und Dianes innere Kraft wird stärker auf die Probe gestellt, als ihre Beziehung zu Olivia sich als Lüge entpuppt:


Doch mit einem Mal fühlte sie, wie ihre Seele zerbrach und einen Abgrund freigab, der ihr ganzes Wesen zu verschlingen drohte, so mächtig war der Sog dieses Schmerzes.“(131)


Aufgrund von Nothombs anderen Romanen würde spätestens an dieser Stelle eine radikale Persönlichkeitsveränderung oder äußerst böse Kehrtwendung der Ereignisse anstehen. Der Triumph von emotionaler Stabilität liest sich zeitgleich als figurenpsychologischer Antiklimax.


Doch die wahre Katastrophe meldet sich unerwartet im letzten Moment an.

Die letzte Überraschung wirkt einerseits als narratologischer Kaiserschnitt: ich fragte mich zunächst, ob das finale Ereignis nicht nur für den Schockwert herbeigeführt wurde. Doch just aufgrund der zahlreichen Parallelen und Figurendoppelungen stellt sich der fatale Schluss als Befreiung für alle Beteiligten heraus.

„Klopf an dein Herz“ ist eine unerwartete, faszinierende, fesselnde Erzählung, die mit Liebe, Verstand und Biss verfasst wurde. Nothomb überrascht und überzeugt erneut.


Findest du Lektüren zu den bösartigen Seiten im Menschen eher erschreckend oder faszinierend? Welchen Roman von Nothomb muss man unbedingt gelesen haben?

Auf Deine Resonanz in den Kommentaren freue ich mich sehr!

Hier geht’s zur Leseprobe.

Bibliografie:

Titel: Klopf an dein Herz
Autor:in: Amélie Nothomb
Übs.:in: Aus d. Französischen v. Brigitte Große
Seitenzahl: 160
Erscheinungsdatum: 23.06.2021 (Tb)
Verlag: Diogenes
ISBN: 978-3-257-24586-8

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  1. Klingt sehr interessant. Danke für den Literaturtipp.

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