„Meine dunkle Vanessa“ von Kate Elizabeth Russell gilt mittlerweile als literarische Ikone der MeToo-Bewegung. Grund dafür sind in gleichen Maßen die Thematik des Buchs und die Art der Autorin, mit dieser Thematik umzugehen – denn Transparenz und die Neuverteilung des semantischen Feldes von „Scham“ sind angesichts der in diesem Kontext ans Licht gekommenen Sachverhalte der letzten Jahre mehr als notwendig.
Warum lässt dieser kontroverse Roman niemanden kalt – und weswegen sollte das Buch nicht jeder lesen?
„Meine dunkle Vanessa“ handelt von der sexuellen und emotionalen Beziehung zwischen einer fünfzehnjährigen Schülerin und ihrem fünfundvierzigjährigen Englischlehrer.
Zu Beginn könnte man die Autorin fast des Sensationalismus beschuldigen: die ersten Seiten sind äußerst explizit und sexuell. Es wird außer Frage gestellt, dass es sich nur um eine verbale Beziehung oder kurzzeitige Belästigung handelte.
Blicke und Berührungen führen zu schönen Worten, Küsse und Versprechen schließlich zur Penetration. Von Vanessas Körper wird jahrelang Gebrauch gemacht – bis ins Erwachsenenalter.
Gekonnte Manipulationen des Englischlehrers Jacob Strane mit Angst, Scham, körperlichen Impulsen und Gefühlen sind – seitens des Lesers – offensichtlich.
Und doch ist Vanessa sich sicher, dass zwischen ihnen eine zärtliche, romantische Liebesbeziehung besteht.
„Er lebt nur, um mir Freude zu bereiten.
Selbst wenn wir uns am Ende trennen,
jetzt und hier betet er mich an – seine dunkle Vanessa.
Das sollte genügen.
Ich kann von Glück sagen, das zu haben,
so geliebt zu werden.“ [192]
Durch die Erzählung hindurch werden sämtliche interpretative Variationen durchprobiert. Vanessa ist kämpft noch sieben Jahre später mit ihren Gedanken und Erinnerungen und ist nicht imstande zu entscheiden, ob es sich um Missbrauch oder Liebe handelte. Wiederholt versucht sie, das Geschehene zu rationalisieren und es zu vermeiden, sich als Opfer darzustellen.
„Dann wäre ich an irgendeinen Jungen geraten, der mich benutzt, wie Dreck gehandelt und mir das Herz aus der Brust gerissen hätte. Dank Strane habe ich zumindest eine bessere Geschichte zu erzählen als die anderen.“ [326]
Strane überschüttet Vanessa mit literarischen Beispielen aus früheren Jahrhunderten mit romantischen Geschichten über Liebesbeziehungen zwischen jüngeren Mädchen und älteren Männern. Obwohl eine offensichtliche intertextuelle Ebene zu Nabokovs kontroversem Roman in den Text eingewoben wurde, sind eher Kontrastierungen als Parallelen zu „Lolita“ hervorzuheben.
Interpretativ handelt es sich jedoch um eine moderne, rationalisierte, desillusionierte Lolita-Geschichte – in dieser Hinsicht kann „Vanessa“ durchaus an derartige Werke angereiht werden und stellt einen Bruch dar, da nun endlich die Frau zur Sprache kommt. Eine Nuance, die mich für einen Moment an „Blaubart“ von Amèlie Nothomb denken ließ.
Überdies stellt Russell mit der Politisierung der Thematik einen beachtlichen Anspruch. Die Reaktion der Schule auf den gesamten Sachverhalt und der Umgang mit Vanessa sind ungeheuerlich. Sowohl die interne Behandlung des Falls als auch die daraus erfolgenden Reaktionen und Kausalitäten weisen auf Parallelen mit der Ignoranz größerer Institutionen hin und bieten einen Boden für relevante Diskussionen.
Vanessa beschließt, im Glauben zu bleiben, dass es sich um eine Liebesgeschichte handelte. Es sei für ihre Bewältigung der Ereignisse notwendig, sich die andere Möglichkeit nie einzugestehen:
„„Es muss eine Liebesgeschichte sein, darauf kann ich nicht verzichten. Verstehen Sie? Das ist ganz, ganz wichtig für mich.“ […]
„Denn wenn es keine Liebesgeschichte ist, was ist es dann?““ [384]
Entscheidend für die analytische Natur der Geschichte und den Progress ihrer Therapie ist hier die Tatsache, dass Vanessa sich zumindest diese Desillusionierung erlaubt. Weiter gehen möchte sie mit ihrer Realisierung nicht. Reicht das zur Vergangenheitsbewältigung, zur Heilung oder Minderung der Traumatisierung? Dies sind Fragen, die ein Laie nicht beantworten kann.
Es handelt sich grundsätzlich um ein schwieriges und komplexes Thema. Der Autorin anzurechnen ist eine pragmatische und gründliche Analyse aller möglichen Aspekte des Sachverhalts, das Einbeziehen mehrerer Perspektiven, das Vorhandensein einer Therapeutin im Leben Vanessas und die jahrelange Bearbeitung der Ereignisse.
Ist die Endlösung als apologetisch zu betrachten? Diese Frage lasse ich offen für diejenigen, die sich in den Kommentaren zu Wort melden möchten.
Auf eure Resonanz freue ich mich.
Bibliografie
Titel: Meine dunkle Vanessa
Autor: Kate Elizabeth Russell
Seitenzahl: 448
Erscheinungsdatum: 17. August 2020
Verlag: C. Bertelsmann Verlag
ISBN: 978-3-570-10427-9
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