Literarische Abenteuer. Marlene Steeruwitz: ‚Partygirl‘

Marlene Steeruwitz. Autorin, Essayistin, Dramatikerin, Lyrikerin. Kritikerin. Feministin. Ihre bevorzugte Artikulationsform: das Staccato. Ihr Gedankengut: unumwunden und tiefgründig. Ihre Bücher: unangenehm scharfsinnig.

Steeruwitz schreibt in ihren Gedichten, Dramen, Romanen und Essays über die Verklemmtheiten von Menschen, die unfreiwillige Positionierung der Frau, und über konventionelle Normen, die aus ihrer Perspektive einiges an Verbesserung gebrauchten. Vorrangig aber untersucht die Autorin in ihrem Werk die unangenehmeren Aspekte dessen, wie es sich anfühlt, eine Frau zu sein, die sich individualistisch entfalten möchte. In ihren Büchern kriecht die Autorin bis in die dunkelsten Ecken einer weiblichen Existenz, wo so einiges an Unansehnlichem rumliegt.

 

Obwohl diese Lesart ihrer Texte bei Weitem nicht die einzig mögliche ist, kann der Roman Partygirl (2002) eben als eine solche existentiell-allegorische Darstellung gelesen werden. Dieses Buch ist eine Sammlung an Ausdrücken des hoffnungslosen Elends, das das Leben einer Frau ausmacht – und die schnörkellose Realität dieser Existenz ist mehr als düster und unangenehm.

 

Der Roman schildert das Leben der Protagonistin Madeline Ascher und die Beziehung zu ihrem Bruder Roderick. Die Erzählung beginnt in Chicago im Jahre 2000 und folgt in Fragmenten aus diversen Jahren und Orten den zwei Geschwistern, die durch eine furchtbare Familiengeschichte aneinander gebunden sind. Die Handlung endet im Jahr 1950 in Baden.

 

2020-08-13 Partygirl coverPartygirl ist bereits von der Komposition her komplizierter Lesestoff. Erst im Laufe der Handlung offenbart sich die umgekehrte Reihenfolge der Ereignisse; Kausalitäten verdrehen sich, Figuren tauchen nicht mehr auf –

wo theoretisch extrem traumatische Ereignisse tiefgründige psychologische Entstellungen mit sich bringen würden, wird nicht auf ihre schwerwiegenden Konsequenzen eingegangen. Der Leser erfährt vom Ursprung und Grund der Ereignisse erst, wenn es schon längst zu spät für die Rettung der Geschwister ist.

 

Der nihilistische Determinismus des Romans ist weitgehend depressiv – doch an dieser Stelle muss bedacht werden, wie akkurat die anhand von Madelines Lebenslauf dargestellte Realität für eine Frau wirklich ist.

 

Der Titel des Romans beinhaltet theoretisch bereits eine Aussage: Der Begriff „Partygirl“ ist zu verstehen als eine Frau, die gerne trinkt und feiert, viel Sex hat – und sich ohne Bindung, Bedeutung und Emotionen von Abend zu Abend, von Mann zu Mann treiben lässt. Dieser moderne Begriff wird von Steeruwitz nun an einen romantischen Topos gebunden: Inspiration zum Roman war die 1839 erschienene Erzählung „Der Untergang des Hauses Usher“ von Edgar Allan Poe. (1)

 

Fest steht, dass die Protagonistin eine innerlich isolierte, unter psychischen Episoden leidende Person ist, die nymphomanische Tendenzen aufzeigt und sich emotional und körperlich auf ihren Bruder zu stützen versucht, während die restliche Welt verdrängt und ausgeschlossen wird. Aufgrund ihrer Kindheitstraumata und der unerwiderten Liebe von Roderick wird Madeline zunehmend apathisch, emotionslos – und bleibt in einer Dauerschleife des ewig Wiederkehrenden zwischen geschmackvollen Hotels, machtvollen Männern, auf Rücksitzen von Luxuslimousinen und unter dem Einfluss von diversen Drogen hängen.

Dass Madeline seit Jahren unter starken Migraineanfällen leidet, erntet keinerlei Empathie: Sie ist auch in ihren „Momente[n] klaustrophobischer Atemnot“ (1) zunehmend auf sich gestellt, obgleich Roderick ihr in früheren Jahren noch zu Hilfe kam. Anfangs versucht sie die innere Leere noch zu füllen und sucht

Halt bei den Männern, die sie verachtet und von denen sie verachtet wird. Der einzige Ausweg scheint die Flucht. Immer will sie weg, wegfahren, von einem Land ins andere, immer in Verfolgung oder Erwartung von Rick. Allein ist sie nichts.“ (2)

 

Durch Ricks emotionalen und empirischen Rückzug von der Schwester verstärkt sich der Wunsch, sich vollständig zu dissoziieren und zu isolieren. Jedoch wird auch dieses Ziel aufgrund der für Madeline als Frau unmöglichen Selbstverwirklichung in einer von den oben erwähnten Männern nicht zu erreichen sein, weswegen Madeline ständig versucht,

den Verlust zu Gier im Bett wandeln. Und den Verlust so vergessen. Keine Erinnerung an den Verlust. Dann hatte man keinen Verlust. Und keine Erinnerung. Dann konnte man sich leicht fühlen.“ (3)

Ihr Körper stellt sich aber ebenso gegen sie und sie entwickelt eine Essstörung:

Niemand wollte verstehen, wie schwierig es war, etwas in den Mund zu stecken. Das Schmecken. Der Mund. Die Lippen. Sie waren wie zugewachsen. Es ging nicht, etwas anderes zu schmecken. Etwas anderes als den eigenen Mund.“ (3)

 

Im Grunde sieht Madeline sich selber bereits aus ihrer kindlichen Perspektive als verurteilt zu einer hoffnungslosen, passiven Existenz:

Sie würde der Zeit zusehen. Das mußte reichen. Dasitzen und zusehen, wie die Falten tiefer wurden. Und sonst keinen Sinn.“ (3)

 

Die Bezeichnung „Partygirl“ würde die Geschichte einer jungen Frau versprechen, deren Lebensweg von Spaß und Spiel gekennzeichnet ist – der Roman ist aber eben das genaue Gegenteil: sie enthüllt von Anfang an eine alte Frau, deren ein trostloser Lebenserhalt um einen weiteren grausamen Verlust gemindert wird. Ihre weitere Existenz ist an diesem Punkt geradezu unmöglich und unerträglich. Die Hoffnung an schönere Zeiten aus Erinnerungen wird nie angedeutet, und tritt auch nie ein. Weder ‚Party‘ noch ‚girl‘ sind hier als positiv konnotierte Begriffe zu verstehen, sondern eher als Vorreiter des bevorstehenden endlosen Grauens zu verstehen.

 

 

In einem Interview beschrieb Steeruwitz das verheerende Gewicht der Kompromisse, die Frauen in einer Partnerschaft nach und nach eingehen, und die schlussendlich zu einer furchtbaren Erkenntnis führen:

Eines Tages wachen Sie auf und es ist eben alles falsch, und dann stellt sich die Entscheidung ohnehin. Aber der Weg dahin ist eben wichtig.“ (4)

Die Protagonistin von Partygirl hingegen wird nie zu dieser Realisierung kommen können, denn ohne Vergangenheit und ohne Zielsetzung ist sie ständig nirgendwohin unterwegs, während sie „sesselschaukelnd vergisst, dass es schon seit Jahren erwachsen sein sollte“ (5). Alles ist falsch – doch Madeline ist emotional so bewusstlos, dass sie noch nicht einmal imstande ist, diese Wahrheit zu sehen.

 

Zweifelsohne handelt es sich bei diesem Roman um schwere Kost. Dass die Autorin hier aber grundlegende Wahrheiten und Warnzeichen zur Schau stellt, die zu dem Punkt des von Steeruwitz umschriebenen individuellen Aufwachen führen können, scheint als Lektion und Wegweiser einen höheren Wert zu besitzen. Diesen muss man sich jedoch erstmal erlesen.

 

Im Roman ‚Partygirl‘ werden weder schöne Versprechen noch glückliche Gedanken noch beneidenswerte Erfolgsgeschichten versprochen. Eine alte Frau verliert auf den ersten Seiten des Romans die ihr einzig wichtige Person – und nach hinten hin werden ihre fragmentarischen Erinnerungen nur zunehmend betrüblicher.

Die ungeschönte Wahrheit eines menschlichen Daseins in ihrer vollständigen Hoffnungslosigkeit kann überaus furchterregend sein, auch wenn diese sich nur beim Lesen und in der Romanform erschließt.

Vielmehr ist die von Steeruwitz erzählte Geschichte jedoch sozialkritisch scharfsinnig, psychologisch bereichernd, existenziell lehrreich – und progressiv für die Emanzipation einer Gesellschaft, die viel zu oft viel zu feige ist, um sich ihre eigenen Probleme vor Augen zu führen.

 

 

(1) Wiener Zeitung: Kein Sieg ohne Scheitern

(2) literaturkritik.de: Warten auf Rick

(3) Literaturhaus Wien: Partygirl

(4) Deutschlandfunk Kultur: „Die Leistungen des Feminismus werden nicht zur Kenntnis genommen“

(5) Aviva: Eine Familiengeschichte voller Verletzungen, Schmerz und Verlangen

 

 

Fotos: 1 2



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