Lost in Helsinki. Sofi Oksanen: „Baby Jane“

Die finnisch-estnische Schriftstellerin und Dramaturgin Sofi Oksanen (*1977) wirft in ihren Werken einen gesellschaftskritischen Blick auf zeitgeschichtliche Ereignisse beider ihrer Herkunftsländer – und untersucht dezidiert die ungemütlichsten menschlichen psychologischen Untergründe.

Oksanen ist bisher vor allem für ihren dritten, in über vierzig Ländern erschienen Roman „Fegefeuer“ bekannt. Der im vergangenen Jahr veröffentlichte Roman „Hundepark“ gehörte zu meinen Jahreshighlights 2022.

„Baby Jane“ ist zwar als neuestes Werk in der Reihe deutschsprachiger Übersetzungen, im Rahmen der chronologischen Bibliographie allerdings als zweiter Roman der Autorin erschienen. Das Buch weist sämtliche Symptome eines typischen Frühwerks auf – und evoziert somit, wie erwartet, Begeisterung und Bedenken.


© Kiepenheuer & Witsch

Die außergewöhnliche Komplexität von Sofi Oksanens Romanen ist unbestreitbar. Ihre Bücher obduzieren mit kritisch-analytischem Blick nicht nur ungemütliche Themenkomplexe, sondern auch prekäre historische Ereignisse, im kontextuellen Tandem.

Oksanens Protagonistinnen triefen vor Kontrasten und Ambivalenz. Sie erzählen aus wenn nicht hochgradig unzuverlässigen, dann mindestens unberechenbaren und oft unsympathischen Perspektiven.

Diese intensiven psychologischen Tonalitäten und Schattierungen werden stets sorgfältig, feinfühlig, kohärent und elegant komponiert und bieten anspruchsvollen Lesenden einen distinkten Lesegenuss.


„Baby Jane“, Übersetzt von Angela Plöger, erschien im Original im Jahr 2005. Die Geschichte spielt im Helsinki der 1990er Jahre und erfüllt die soziohistorischen sowie figurenpsychologischen Oksanen’schen Kriterien: das Buch handelt von der Liebesbeziehung und den fragmentierten Innenwelten zwei junger Frauen, die mit Depression und Panikstörungen zu kämpfen haben.

Nicht nur die aus der Krankheit entstehenden sozialen Probleme im allgemeinen, sondern auch die Belastungen in freundschaftlichen Beziehungen werden behandelt. Überdies wird der kontrollierte und unkontrollierte gewaltvolle Umgang beider Frauen miteinander thematisiert.

Oksanens Faible für unsympathische Protagonistinnen wurde mir vorrangig aus „Hundepark“ bewusst – obwohl auch die Hauptfigur aus beispielsweise „Fegefeuer“ gerade in ihrer Ambivalenz an Authentizität gewinnt. In „Baby Jane“ kombiniert Oksanen kompositorische Finesse mit figurenpsychologischer Spannung und schält essenzielle Informationen in einem bemessenen Erzähltempo nach und nach heraus.

Beispielsweise faszinieren die kontrastreichen Facetten der Beziehung, die Lesenden zunächst als alles verschlingende, junge, reine, hingebungsvolle Liebe verkauft wird:


Als fiele in mir roter Regen und als wäre mein Erstaunen
immer wieder grenzenlos, weil die Bettwäsche sich gar nicht
rot färbte […], obwohl Piki ihre Finger
bis zu meinem Herzen vorgeschoben hatte.“(16)


Bei dieser Schilderung handelt es sich allerdings lange nicht um die letzte Enthüllung: während die Geschichte sich immer tiefer in der schwarzen Tiefe des psychologischen Untertagebaus verliert, erhalten die Figuren weitere Facetten, die wiederum ihre Beziehung zueinander in unerwartete Licht-(oder eher Dunkelheits)-Verhältnisse stellt.


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Abseits der langsam zum Vorschein kommenden düsteren psychologischen Komplexität der gesamten Figurenebene würfelt vor allem die graduelle Offenbarung von Pikis Charakter die Rollen von Täterinnen und Opfern, die Abhängigkeits- und Verantwortungsdynamiken mehrmals durcheinander.

Initial baut Oksanen Piki als Sympathieträgerin und als dominante Figur auf, die die Ich-Erzählerin materiell und emotional stützt, doch wird dieses Verhältnis schlussendlich um 180 Grad gedreht. Schicht um Schicht ändert und wandelt sich ihre Dynamik – bis beide Frauen durch den Auftritt anderer Spieler*innen auf der Bühne erneut ein anderes Gesicht zeigen.

Parallel zu diesen Entwicklungen geht Oksanen dezidiert auf die psychosoziale Komponente von unter Depressionen leidenden Individuen ein und behandelt die Thematik auf gesellschaftlicher Ebene mit kritischen Augen.


Krankgeschrieben war sie schon seit vielen Jahren.
Eine Rente hätte für sie jedoch bedeutet, dass sie aufgab.“(108)


Die Anlehnung des Romans an Robert Aldrichs Film „Was geschah wirklich mit Baby Jane?“ bezieht sich auf diverse Facetten der Vorlage: das Motiv des Gefangenseins in der eigenen Wohnung, die Annahme eines Alter Egos, die gemeinsame Kultivierung dieses Alter Egos – und gewaltvolle körperliche sowie psychologische Zerstörung derjenigen Person, die man eigentlich lieben sollte.


Erst im reflexiven Nachhall entpuppt sich eine gewisse, auf den ersten Blick altruistisch Unterstützung bietende Nebenfigur nämlich als bitterer Nachgeschmack der bereits abgeschlossenen tragischen Ereignisse – als jemand, der eine andere Person, die ihre Gefühle nicht erwidert, von sich abhängig macht und diese Person dann langsam zunehmend quält.

In diesem Rahmen möchte ich allerdings Spoiler vermeiden und ermutige Dich zur Entdeckung der subtilen Komplexitäten während und im Nachgang der Lektüre.


Aber die einzige Hilfe, die Piki damals bekam,
war eine Krankschreibung und ein Haufen Medikamente,
für den Anfang natürlich […] Fontex, das der Arzt des
Vermutungszentrums mit einem Fontex-Stift verschrieb,
wobei er einen Fontex-Zettelblock in der Hand drehte und ihm
ein Fontex-Schlüsselanhänger am Hals klimperte.“(188)


Argumentativ kritisch zu betrachten ist das sehr abrupte und vage Ende der Geschichte, das zwar einige mittig der Handlung gestellte Fragen klärt – hingegen vieles bezüglich Motivation, Schuld, Kausalität und Konsequenzen offen lässt.

An dieser Stelle wäre es möglich, Antworten im Film zu suchen oder sich erneut zwischen den Zeilen auf deduktive Reise zu begeben – meinerseits bieten beide Optionen eine lohnende Lösung für die zahlreichen Fragezeichen, die sich noch im Raum befinden.

Gerade im reflexiven Nachhall und mithilfe der Recherchen zum Film haben sich hierzulande einige Facetten der Geschichte verdeutlicht.


Sofi Oksanens zweiter Roman „Baby Jane“ birgt zweifelsohne sämtliche vereinende Merkmale ihres Œuvres: Figuren mit kontrastreichem Tiefgang, eine kritische Behandlung gesellschaftlicher Probleme, kompositorische Komplexitäten und mehrere spannende Handlungsebenen.

Dass das Frühwerk in puncto Umfang noch ausbaufähig ist und die Nuanciertheit des Impliziten Entwicklungspotenzial aufweist, ist in diesem Rahmen – und in Kenntnis ihrer folgenden Meisterwerke – zu vergeben.

Hier geht’s zur Leseprobe.

Bibliografie:

Titel: Baby Jane
Autor*in: Sofi Oksanen
Übs.*in: Angela Plöger

224 Seiten | 22,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 12.01.2023
Verlag: Kiepenheuer&Witsch
ISBN: 978-3-462-00409-0

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