Drei Kurzrezensionen, Edition Black History Month: „Die Süße von Wasser“, „Strände. Warum sie mich kaltlassen“ und „Die glücklichsten Menschen der Welt“

Ein lyrisches Liebeskind von Gayl Jones und Warsan Shire, eine faszinierende und unorthodoxe Auseinandersetzung aus dem US-Amerikanischen Südstaatenmilieu direkt nach dem Sezessionskrieg – und der neue, großartige, bissige Gesellschaftsroman des Nigerianischen Nobelpreisträgers. Im heutigen Beitrag aus der Reihe „Drei Kurzrezensionen“ teile ich meine kompakten Eindrücke zu drei vor Kurzem gelesenen literarischen Juwelen von Schwarzen Autor*innen.


Zusätzlich zu den regulären ausführlichen Buchbesprechungen erscheinen seit Kurzem unter dem Serientitel „Drei Kurzrezensionen“ gebündelte Momentaufnahmen. Diese Texte entstehen meist als unmittelbare Eindrücke direkt während oder kurz nach der Lektüre und sollen lediglich eine Impression des jeweiligen Buchs darstellen. Weiteres können wir bei Interesse sehr gerne in den Kommentaren besprechen und ausführen.

Im heutigen Beitrag habe ich meine Gedanken zu drei lesenswerten Romanen gebündelt, die sich mit dem Themenkomplex Schwarze Geschichte beschäftigen.


Nathan Harris: „Die Süße von Wasser“
Übersetzt von Tobias Schnettler


© Eichborn Verlag

Das Debüt des Texaner Autors Nathan Harris (* 1992) stand auf der Longlist für den Booker Prize 2021. Harris soll gemäß Lob seitens des Verlags mit „großem psychologischen Feingefühl“ vorgehen und „die erbarmungslose Zeit des Wiederaufbaus“ heraufbeschwören.

Die historische Prämisse der Geschichte ist faszinierend und unorthodox: Old Ox in Georgia ist eine typische Kleinstadt in den Südstaaten, in der sich nach dem Sezessionskrieg Gemüter spalten und Konflikte brühen: persönliche Positionen bezüglich der Befreiung und gerechter Beschäftigung von versklavten Menschen könnten unterschiedlicher nicht sein.

Als der Farmbesitzer George also die Befreiten Landry und Prentiss als bezahlte Hilfsarbeiter auf seinem Feld beschäftigt, führt dies zu Widerstand und Revolte von anderen Bewohnern in Old Ox. Nicht minder beschäftigen George der angebliche Tod seines Sohnes, die angespannte Beziehung zu seiner Frau und ein unheimliches und gefährliches Wesen, das in Georges Wald sein Unheil treibt…

Harris‘ Feingefühl bei der Figurenbeschreibung ist durchaus lobenswert: alle seiner Figuren werden anhand von Innenperspektiven gezeigt und tragen einen je komplexen Konflikt in sich. Diese Reichhaltigkeit ist auf den ersten Blick beeindruckend. Dass – gerade in einem Debüt – solch farbige Stadtkulissen mit interessanten Teilnehmenden gezeichnet werden, ist einerseits bemerkenswert.

Doch zeigen sich während der Lektüre diverse Handlungsrädchen, die einseitig bleiben: auch wenn es dem Autor offensichtlich wichtig war, die Kulisse so lebendig und emotional vielfältig zu gestalten, werden viele Dynamiken recht oberflächlich ausgeführt und nicht nur den Geschichten von Nebenfiguren, sondern vielversprechenden Nuancen von Protagonisten wird nicht auf den Grund gegangen.

Das heißt keineswegs, dass Harris nicht eine bewegende Geschichte mit gut balancierter Komposition und einem gekonnt gezogenen Spannungsbogen konstruiert hätte. Eher aber, dass entweder an Personal oder an im Vorbeigehen angerührten Konflikten eingespart hätte werden können.

„Die Süße von Wasser“ behandelt eine hochgradig kontroverse Umbruchszeit an einem Ort voller Krisen und Konflikte individueller sowie gemeinschaftlicher Art und Harris bringt – gerade als Schwarzer Autor – eine Empathie für alle seiner Figuren auf, die weit über das zu Erwartende reicht. Woher der Gedanke dazu kam und was ihn an der historischen Auseinandersetzung persönlich bewegt und interessiert hat, erläuterte der Autor selbst: er möchte neue Geschichten erzählen, neue Blickwinken bieten und vorher ungesehene Nuancen bestehender Prozesse und vergangener Ereignisse aufzeigen, aufarbeiten, verstehen. Dahinter sieht er den essenziellen Wert eines Autors.

Die Hintergründe der Entscheidung, einen weißen Protagonisten (und seine Familienmitglieder) zum gefühlt alleinigen Helden aufsteigen zu lassen, dabei seinen Schwarzen Figuren minimal Persönlichkeit verleihend, müssen noch gesucht und erfragt werden. Ob diese doch recht offensichtliche Schwerpunktsetzung eine unterschwellige Nachricht birgt, bleibt im eigenen Textverständnis zu entscheiden.

Fazit: Nathan Harris hat mit „Die Süße von Wasser“ ein verdammt gutes Debüt geschrieben, zeigt als Autor allerdings noch einiges an Entwicklungspotenzial auf. Ich bin gespannt auf sein nächstes Buch.

Disclaimer: das Buch enthält zwecks historisch akkurater Darstellungen rassistische Bezeichnungen in Form von Figurenrede. Dies wird zum Eingang des Romans erörtert.

448 S., 25,00 €, erschienen 2022 im Eichborn Verlag.
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Wole Soyinka: „Die glücklichsten Menschen der Welt“
Übersetzt von Inge Uffelmann


© Blessing Verlag

Afrikas erster Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka (* 1934) wurde wegen seiner Kritik an diversen nigerianischen Regimes sowohl eingesperrt als auch ins Exil gezwungen. Sein neuester Roman über die prekären Verhältnisse in den politischen, religiösen und wirtschaftlichen Sphären Nigerias schwebt andauernd zwischen zynischem Humor und scharfer Sozialkritik – stets an der zeitgenössischen Realität rüttelnd.

Soyinkas zynisches Lächeln zeigt blutige Zähne – denn der Biss hat gesessen.

In dieser satirischen Darstellung steckt ein historisches Seminar. Wie es nicht möglich ist, Bulgakows Satire nachzuvollziehen, ohne zumindest im Ansatz über das Sowjet-Regime in Kenntnis zu sein, verlangt „Die glücklichsten Menschen der Welt“ Recherchen zur Historie Nigerias. Insbesondere der Terror von Boko Haram und die kulturhistorischen Traditionen der Yoruba spielen in der Geschichte eine zentrale Rolle.

Obwohl zahlreiche interessante und ambivalente Protagonisten sich mit grausamen Zielen und Lebensphilosophien auf der nigerianischen Landschaft bewegen – und ein entsetzliches Mordmysterium mit vielen Teilnehmern zugange ist –, spielt das Land selbst ganz klar die wichtigste Rolle. Politische Verhältnisse, soziokulturelle Aktualitäten, die vollständige Korruption aller Institutionen sowie menschenverachtende Taten seitens geldgieriger Individuen werden von zahlreichen Seiten beleuchtet und bloßgestellt.

Soyinkas Panorama erstreckt sich gekonnt von Individualpsychologie bis hin zur Analyse einer gesamten Nation – und die Realität könnte vom Titel nicht ferner sein. Obwohl diese Beschreibungen fesseln und entsetzen, ist vor allem Soyinkas Eloquenz und Beobachtungsgabe zu genießen. Viele handlungstechnisch eher ausschweifenden Passagen verlieren sich in Nuancen, die für Außenseiter unerkenntlich bleiben könnten.

Fazit: Ein großartiger Gesellschaftsroman, für den ich vorsichtshalber dennoch nur eine eingeschränkte Leseempfehlung ausspreche.

654 S., 24€, erschienen 2022 im Blessing Verlag.
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Wanda Coleman: „Strände. Warum sie mich kaltlassen“
Übersetzt von Esther Ghionda-Breger


© Maro Verlag

In diesem ungemein üppigen Lyrikband der US-Amerikanischen Lyrikerin, Romancierin und Essayistin Wanda Coleman (1946–2013) stecken mehrere Semester Schwarzer Geschichte.

„Strände. Warum sie mich kaltlassen“ versammelt mehr als 120 Gedichte aus mehreren Bänden. In der Reihenfolge bleibt die Sammlung, wie das Nachwort des Herausgebers verrät, den Originalbänden treu.

Coleman schrieb über prägende Ereignisse Schwarzer Geschichte, widmete ihre Gedichte wichtigen Personen wie Emmett Till und Nat Turner – doch auch ihren Familienmitgliedern, ihren Kindern, ihrer Schwester, ihren Liebhabern.

Colemans Gedichte lesen sich wie ein lyrisches Liebeskind von Charles Bukowski und Walt Whitman, von Gayl Jones und Warsan Shire: blutige Herzen, bissiger Humor, gefühlsintensive Auseinandersetzungen, trauernde Erinnerungen – ein  ergreifendes und persönlichkeitsstarkes Panorama, randvoll mit wichtigen kulturhistorischen Hinweisen.

Sie thematisiert den Landraub und die Versklavung der indigenen Bevölkerung in Oklahoma, den brutalen Umgang mit Schwarzen Individuen und Schwarzen Menschen per se, führt ihre Position und Rolle als unapologetische, selbstsichere Schwarze Frau mit einer Botschaft aus, die sie aus voller Kehle schreit – da jede*r diese hören sollte.


Fazit: Für lyrikaffine Individuen, die sich für Schwarze Geschichte sowie intensive seelische Portraits interessieren und vor hartem Tobak nicht abschrecken, liegt hier eine klare Leseempfehlung vor.

245 S., 24€, erschienen 2021 im Maro Verlag.
Hier geht’s zur Leseprobe (PDF Download)

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