Die US-Amerikanische Autorin Ottessa Moshfegh (* 1981) ist für schräge, skurrile Erzählwelten bekannt. In ihren Romanen und Kurzgeschichten dekonstruiert sie konventionelle Figuren, Situationen und Dynamiken, um mittels gekonnter Ironie und bösem Humor menschliche Wahrheiten zur Schau zu stellen.
„Lapvona“ gilt zweifelsohne als die absolute Krönung Moshfeghs bisheriger Veröffentlichungen. Warum ist diesem Roman dennoch mit Vorsicht zu begegnen?

Ottessa Moshfeghs neuester Roman „Lapvona“, übersetzt von Anke Caroline Burger, erzählt die düstere Geschichte eines unheiligen Ortes im dunkelsten Mittelalter.
Zumindest auf den ersten Blick – denn die Autorin arbeitet auch in diesem Werk mit klassischen Methoden der Satire.
Auf den zweiten Blick öffnen sich aufmerksamen Lesenden zahlreiche interpretatorische Türen und Perspektiven, denn Moshfeghs Erzählwelt ist vielschichtig und ergiebig – sowohl in puncto Symbolgehalt als auch psychologische Feinheiten.
Für die notwendige Weitsicht muss allerdings erst eine erhebliche Toleranz für die in Teilen äußerst groteske Erzählwelt aufgebaut werden, wozu sicherlich nicht jede*r imstande sein wird.
Das gemäß der Autorin nach osteuropäischen Vorbildern modellierte fiktive mittelalterliche Dorf Lapvona ist ein armseliger Ort. Bereits auf den Wiesen stinkt es nach Kot und Verwesung, auf den Bauernhöfen nach Blut, Vieh und Schlamm. Die Bewohner*innen schuften hart um ihr tägliches Brot, nur um von einem habgierigen Fürsten ständig ausgeraubt zu werden und zu hungern.
Eines steht fest: Niemand ist glücklich in Lapvona. Doch es kommt noch wesentlich schlimmer: In Lapvona leben ausschließlich scheußliche Menschen.
„Insgeheim freute Marek sich jedoch ein bisschen,
dass er blutete und der zerbrochene Eimer Jude sicherlich
zum Anlass dienen würde, ihm bei der Heimkehr
eine ordentliche Tracht Prügel zu verpassen.
[…]
Gut so, dachte Marek. Ich verdiene diese Qual.
Er lebte für die Qual. Sie gab ihm Anlass, sich über
seine körperlichen Schmerzen erhaben zu fühlen.„(34)
Es findet in Teilen eine direkte Umkehr konventioneller Emotionen statt – in Teilen spielt Moshfegh auf radikale Art und Weise mit normativen Erwartungen ans menschliche Gemüt.
Beispielsweise führt sie eine Gleichsetzung von platonischer mit erotischer Liebe durch, wenn es um Mutter-Sohn-Beziehungen geht, und legt die Vorstellungen des Protagonisten bezüglich dessen, was als „richtig“ und „falsch“ gilt, vollständig ins moralische Abseits – ihn gleichzeitig von der Verantwortung befreiend, da das krumme Weltbild zunächst von seinem Vater stammt und zudem dem allgemeinen Welt- und Menschenbild von Lapvona zu entsprechen scheint.
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Auch zwischen Eheleuten gibt es trotz religiöser Regelungen weder große Gefühle noch Verpflichtungen. Frauen werden dem Willen von Männern unterworfen, müssen entweder eine Vergewaltigung über sich ergehen lassen – und tun dies auch, weil es eben so ist – oder werden von ihrer Familie aus reiner Habsucht zur Heirat gezwungen.
„Er hatte sie geliebt, er war in sie eingedrungen,
hatte etwas von sich hergeschenkt und ihren Schoß gefüllt,
der von Gott für ihn geschaffen worden war.“(38)
Pragmatischere Augen würden an dieser Stelle eventuell folgern: Naja, wie das Leben im Mittelalter, gemäß zeitgenössischer Vorstellung. In Berücksichtigung bekannter Umstände wäre Mareks Überleben tatsächlich unwahrscheinlich, da er als körperlich verwachsen, zum Teil gelähmt und allgemein hässlich beschrieben wird. Doch bewältigt er die Umstände in Lapvona, wird größtenteils sich selbst überlassen und beweist die notwendige Resilienz, um für sich selbst zu sorgen.
Faszinierend und recht facettenreich behandelt wird in „Lapvona“ das Thema Religion und die regionale Spaltung der religiösen Prinzipien. Nicht nur zwischen Nord und Süd, sondern zwischen Fürst und Bauer stehen divergierende Dogmen und Konzepte dessen, was Gottes Gnade ausmacht, wie Tugend zu definieren ist und ob jemand in den Himmel kommt.
Die Komplexität der Erzählwelt und die Vielzahl der Figuren legt Moshfegh meisterhaft zu-, in- und übereinander. Übertreibungen und groteske Szenen stehen nie ausschließlich zwecks Schockwert isoliert da, sondern fügen sich in die Handlung, und sämtliche Handlungslinien verwickeln sich mehrwerdend im Laufe des Romans.
Es geht trotz gepflegter Kausalitäten immer schräger vonstatten in dieser Geschichte, die meines Erachtens die Bezeichnung „Brainfuck Extravaganza“ mehr als verdient hat. Beeindruckend ist überdies, wie Moshfegh es schafft, die Geschichte immer absurder werden zu lassen, und doch meisterhaft um ihre Figuren sowie deren Motivation, Dynamik und die entsprechenden Kausalitäten weiß.
Der narrative Tanz zwischen Orten, Personen, Ereignissen und deren Wechselwirkungen lässt immer wieder überlegen und horchen – und überrascht mit ungesehenen Zusammenhängen zwischen den Tänzer*innen. Die kompositorischen Filigranitäten in „Lapvona“ zeugen somit von enormem erzählerischen Können.
„Ina behauptete, das sei der Wirkung ihrer Wundermittel
zu verdanken. In Wirklichkeit hatte Ina ihre alten, blinden Augen
gegen die von [Spoiler]s Pferd ausgetauscht.“(212)
In Lapvona ist jede*r bedroht und jede Figur zum Mord fähig. Giftige Weinflaschen, Verbrecher, die an den Pranger gestellt und verstümmelt werden, und der brutale Verzehr Verstorbener lassen kaum jemanden mit der Wimper zucken. Wer in diesen Umständen überleben möchte, muss Moral und Ethik über Bord schmeißen.
Und doch: Wer am Ende des Romans alles stirbt und auf welchen Wegen, ist scheinbar willkürlich, einerseits überraschend, im Großen und Ganzen aber enorm zufriedenstellend. Mehr verrate ich an dieser Stelle allerdings nicht.
Was sagt „Lapvona“ nun über unsere Realität aus? Dass hier die „groteske Darstellung von Ungleichheit, Korruption und Tyrannei“, so der Verlag, stattfindet, ist nicht zu übersehen. Dass Korruption und Tyrannei in der heutigen Gesellschaft gar nicht so selten vorkommen, scheint ebenso recht deutlich zu sein.
Dass mächtige Männer sich als Gottes Geschenk an die Menschheit betrachten und weniger mächtige Männer sich oft an zarten Frauen vergreifen, um die Illusion von Macht aufrecht zu erhalten, ist ebenso weiterhin ein Brennpunkt in unserer Gesellschaft.
Gut, es wird niemand einem Verbrecher als Revanche mit einem Messer das Ohr abschneiden können, sofern dieser nicht am Pranger hängt, sondern in einer abgeschlossenen, bewachten Zelle sitzt. Doch die Gewaltbereitschaft, religiöse Polarisierung und Habgier der zeitgenössischen Gesellschaft sind ebenso nicht zu übersehen.
Insofern kann Lapvona nicht nur als lustige Satire, groteske Kuriosität oder mit Superlativen konstruierte Hyperbel gelesen werden. Eher hat Moshfegh hier eine Warnung ausgesprochen: Lapvona ist nicht mehr weit von der Realität. Insofern gilt es vorrangig, dieser Lektüre sehr aufmerksam zu folgen.
Als Fußnote und Hinweis zur Lektüre gelten die recht vielfältigen und interessanten weiblichen Figuren des Romans, die – im Vergleich zum männlichen Personal – als Menschen überwiegend positiv wegkommen. Diese Nuance lasse ich allerdings ebenso zur selbstständigen Entdeckung unerörtert.
Eine kleine Kritik muss ich an dieser Stelle noch aussprechen. Obwohl der Text kompositorisch sehr gut balanciert ist und jeder Figur eine angemessene sowie kausal nachvollziehbare Position verliehen wird, kommt zum letzten Viertel doch etwas zu viel Personal ins Spiel.
Die letzte Familie, die in die Handlung hinzugefügt wird, ist quasi schon überflüssig für die gesamtgeschichtliche Entwicklung. Zwar ergänzen sie das bestehende Figurenbild und fügen sich in den Roman ein, doch hätte der Roman auch mit einem Kapitel weniger nicht an Intensität eingebüßt.
Summarum lässt Moshfeghs Art, Kleinigkeiten aus der Innenperspektive einer jeden Figur zu verraten, grausame Gedanken und unmenschliche Absichten zu schildern und nach und nach für eine vollständige Umkehr des tugendhaften Menschenbildes im Allgemeinen zu sorgen, immer wieder lauthals lachen – um direkt besorgt innezuhalten, wenn realistische Fetzen aus diesem Danse Macabre hervordringen. Und das tun sie verdammt oft.
Ottessa Moshfeghs „Lapvona“ ist ein unglaublich skurriler, hochgradig grotesker, unheilig witziger und für viele Lesende nicht auszuhaltender Roman. Diejenigen, die sich von der Art der Autorin nicht einschüchtern lassen, werden hier ein hervorragendes Leseerlebnis vorfinden.
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Bibliografie:
Titel: Lapvona
Autor*in: Ottessa Moshfegh
Übs.*in: Anke Caroline Burger
336 Seiten | 26,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 23.01.2023
Verlag: Hanser Berlin
ISBN: 978-3-446-27584-3
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Bin eigentlich Fan von Moshfegh, aber hier traue ich mich nicht ran …
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Es ist definitiv auch für ihre Verhältnisse eine sehr heftige Lektüre, nichts für sensible Gemüter. Eventuelle wäre „Blütenschatten“ von Annalena McAfee eine Querempfehlung für Dich, liebe Marina – bis zum nächsten Moshfegh. ♥
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Danke für den Tipp! Das klingt gut.
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