Die Wiener Autorin, Regisseurin und Dramaturgin Marlene Streeruwitz (* 1950) stand mit ihrem Roman „Die Schmerzmacherin“ 2011 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, der Roman „Flammenwand“ war 2019 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.
Mit welchen Mitteln gelingt Streeruwitz in „Tage im Mai. Roman dialogué.“ die prekäre literarische Gradwanderung zwischen Pandemie und Zeitgeist – und warum evoziert diese schwermütige Lektüre über Einsamkeit und menschliches verloren sein Schmunzeln und Auflachen?
Ich hatte vor Kurzem das Vergnügen, die Autorin live zu sehen, ihre eigenen Gedanken zum Roman zu erfahren – und äußerst gelungene Ergänzungen zum Text zu erhalten. Dieser Beitrag versteht sich als Erfahrungsbericht und Buchbesprechung zugleich.

Marlene Streeruwitz‘ neuester Roman „Tage im Mai. Roman dialogué.“ knüpft in vielerlei Hinsicht auf das Fundament der Romancierin an.
Bereits im Titel deutet Streeruwitz eine dialogische Form des Romans an. Diese wird im expliziten und im subtilen Sinne verwirklicht:
„Tage im Mai“ wechselt zunächst zwischen den Perspektiven von Veronica und Konstanze, Tochter und Mutter, lässt die Frauen in behutsamen Schritten aufeinander zukommen und final im Dialog zusammentreffen.
So variiert auch der Text von getrennten Kapiteln aus zwei isolierten Innenperspektiven zum gemeinsamen Gespräch im Schlusskapitel.
Streeruwitz studierte Slawistik und Kunstgeschichte und begann ihre künstlerische Karriere als Regisseurin und Autorin von Theaterstücken und Hörspielen. Somit ist zu erahnen, dass das Dialogische ihr formal naheliegt. Allerdings birgt sich im Motto „Dialog“ wesentlich mehr.
„Tage im Mai“ ist eine feinfühlige Annäherung von zwei Frauen, die sich finanziell, körperlich und seelisch verloren, verlassen, verarmt und einsam fühlen – Töchter von alleinerziehenden Müttern, von der elterlichen und von der romantischen Liebe enttäuscht. Streeruwitz verfolgt sowohl die individuelle Selbstfindung und Befreiung beider Frauen von ihren Hintergrundsystemen als auch die schwierige Dynamik zwischen einer Mutter und einer Tochter.
Ich hatte das Vergnügen, die Buchvorstellung im Literaturhaus Berlin zu besuchen, wo Marlene Streeruwitz im Gespräch mit Asal Dardan (deren erhellender Essayband „Betrachtungen einer Barbarin“ ich mit Nachdruck empfehle) zu lauschen. Ein Gespräch – ein Dialog –, welches die initialen Eindrücke zum Roman um einiges ergänzte und trotz tristen Stils die Geschichte in denjenigen sehr intensiven Farben schimmern ließ, in denen auch das blühende Buchcover ausgeschmückt ist.
Im breiteren Sinne allegorisiert Streeruwitz die Beziehung und den potenziellen Dialog zwischen Generationen. „Wahrscheinlich muss die Form des Dialogischen noch mehr ausgebaut werden“, meinte die Autorin zur Möglichkeit eines offenen, weiterführenden Gesprächs – nicht nur zwischen zwei Figuren, sondern zwischen reellen Individuen.
Streeruwitz betonte im Gespräch mit Dardan, Eltern sein sei „ein großes Kunstwerk“ – und hob zeitgleich hervor, wie schwer es ist, in den Dialog zu treten, da wir nicht über „genug Sprache“ verfügen, „die Personen haben nicht genug Vokabeln, um einander näherzutreten.“
„Ja. Die hatten das Sagen, aber sie hatte die Übersetzung.
Sie wusste es. Wissen. Können.
Das Sagen von denen setzte ihr Wissen außer Kraft.
Setzte sie außer Kraft.
Entwertete.“(57)1
Die Psyche von Konstanze ist von einer spannenden Diskrepanz getragen: als Übersetzerin kennt sie sich durchaus hervorragend im sprachlichen Gefilde aus – und dennoch muss sie die Nähe zu ihrer Tochter mühsamer erarbeiten als eine gelungene Textüberlieferung.
Faszinierend ist ebenso, wie Konstanze und Veronika von ähnlichen Unsicherheiten und Ängsten vorangetrieben werden, diese sich jedoch in unterschiedlichen Variationen zeigen. Für den allwissenden, mächtigen, emotional überlegenen Lesenden stehen die zwei Frauen in Gedanken stets im Dialog – erfahren dies jedoch selbst erst zum Schluss.
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Streeruwitz bezeichnet sich als „katholisch sozialisierte Person“ (Geschlecht. Zahl. Fall., S. 14). Im Gespräch mit Dardan ergänzte sie: „Die Katholische Kirche ist für Österreich etwas völlig anderes, das können Sie sich gar nicht vorstellen.“
In diesem Zusammenhang ist der in eigenen Worten ausgedrückte Anspruch der Autorin, einen „Schnitt in die Zeit zu machen“ zu untersuchen: sowohl Veronicas keineswegs angenehmer Aufenthalt in einem katholischen Wohnheim und die Thematisierung des Katholischen als österreichische Grundidentität sind Aspekte, die Lesende aus anderen Kulturräumen im vollem Umfang nachvollziehen können. Eine scharfsinnige Darstellung der entsprechenden Begebenheiten bietet für Recherchefreudige jedoch faszinierende – erschreckende – Realitäten bezüglich dessen, was im erzählerischen Raum des Wohnheims angedeutet wird.
„Sie wäre auch im Seuchenschutzanzug gegangen.
Dann hätte sie wenigstens zu dieser Universität gehen können.
Hingehen. Teilnehmen.
Sie wären alle in diesen apfelgrünen Anzügen dagesessen.
Aber gemeinsam.“(136)
Wahrscheinlich am lobenswertesten und interessantesten ist Streeruwitz‘ Schnitt in der Zeit bezüglich unserer pandemischen Gegenwart: bisher ist mir nämlich kein einziger Roman begegnet, der die vergangenen Jahre als Teil des Alltags behandelt, realistische Szenen in die Handlung einbettet und zeitgleich reflexiv nicht nur mit COVID, sondern simultanen Facetten und Gedanken von Figuren umgeht, die – wie wir – dennoch weitermachen und eine neue Normalität für sich erfinden und kreieren müssen, sei diese noch so weit von der eingeprägten Normalwelt entfernt. Auch diese Diskrepanz, die für Risse in und zwischen den Figuren sorgt, wird vielfältig ausgearbeitet und nimmt nie Überhand.
Während die Pandemie unsere kollektive Realität gelähmt, gekränkt und vernichtet hat, geht das Leben im Angesicht des Todes weiter. Veronicas Umgang mit der Trauer um ihre Großmutter bildet eine Facette ihres Alltags, die Sehnsucht nach der Sozialisierung im universitären Umfeld und die korrelierende Enttäuschung mit dem Umfeld im Wohnheim eine andere. Streeruwitz versteht es, diese Umstände, Emotionen und Situationen miteinander und ineinander zu kombinieren; triste, in Teilen depressive, doch in wesentlich größeren Teilen faszinierende Gedankenwelten und Kausalitäten zu erschaffen.
Einen hochgradig amüsanten Teil des Romans und eine klare Spiegelung der letzten Jahre verwirklicht Streeruwitz mit der in Episoden beschriebenen fiktiven Telenovela, die Veronica und Konstanze gemeinsam auf Netflix bingen. Diese besteht aus vollständig albernen und übertriebenen Begebenheiten, Hyperbeln und Superlativen – oder wie Streeruwitz ihre Methodik für diese Kapitel in eigenen Worten beschrieb: „Jeder Satz eine Handlung“.
Lesende sitzen somit auf einmal mit Mutter und Tochter auf dem Sofa, folgen der tumultuösen Serie, werden Zeugen von Liebe und Rache, Hass und Vergeltung, Mord und Todschlag, Betrug und Vergewaltigung, Diebstahl und Hetzjagd. Bis mehrere Folgen geskipt werden – denn wer schaut schon Serien nach zwei Staffeln? – und die Handlung weiterhin leicht verfolgbar bleibt.
Exakt wie bei einer „echten“ Telenovela. Und auf einmal fühlt mensch sich wohl, so entfernt von großem Drama, auf dem Sofa zwischen den eigenen vier Wänden. Auch wenn nur mit Maske in die Straßenbahn gestiegen werden darf. Faszinierend, äußerst gut getroffen – und erst im reflexiven Nachhall des Romans so deutlich erkennbar, wie soeben beschrieben.
Die absolute Krönung der Buchvorstellung im Literaturhaus Berlin (obwohl Konkurrenzmomente vorhanden sind) war der Vortrag einer Passage aus dem Schlussdialogkapitel, in dem Streeruwitz als Veronica, die Tochter, sprach. Die Autorin verleiht den eigenen Sätzen beim Rezitieren einen sehr persönlichen Ton, befreit die sonst knappen, elliptischen Sätze von ihrer tristen Schwere, füllt die Zeilen mit einer Dynamik und mit Pep, der sich nicht unbedingt aus dem Text ergibt.
Das Gespräch ist auf dem YouTube-Kanal vom Li-Be zu finden, stellt meines Erachtens eine äußerst gelungene Ergänzung zum Romantext dar und offenbart den wunderbaren trockenen Humor der im Laufe des Abends gefühlt immer charismatischer werdenden Autorin. Allerdings empfehle ich meinerseits dennoch zunächst die Lektüre des Romans, danach den Dialog zwischen Dardan und Streeruwitz.
So fühlte ich mich thematisch summarum des Öfteren an „Partygirl.“ aus dem Jahr 2002 erinnert – mein erstes Leseerlebnis der Autorin, ein Roman ohne Dialog, obwohl dort miteinander gesprochen wurde, auch eine Wanderung, eine verlorene Innenwelt inmitten einer lauten Außenwelt, ohne seelische Erfüllung. Mit Richtung aber ohne Ziel, mit Stil aber ohne Glücklichsein.
Diese Romane in Bezug zueinander zu erleben und das Erzählwerk chronologisch-linear zu betrachten lässt mehrere Funken Hoffnung in der Streeruwitz’schen Erzählwelt aufglühen und „Tage im Mai“ in einem sanfteren Licht erscheinen – wie es auch die Umsetzung des Textes von den Lippen der Verfasserin bewirkte. Dem Anspruch, dem Dialogischen näherzukommen und mehr Sprache füreinander zu finden, wird die Autorin im neuesten Roman mehr als gerecht.
Für Lesende, die mit den obigen Facetten Bekanntschaft machen möchten, sich in unapologetische Zeitgeist-Romane vertiefen wollen und stilistisch persönlichkeitsstarke Texte gerne lesen, wird Marlene Streeruwitz‘ „Tage im Mai. Roman dialogué.“ ein Lesegenuss werden.
1 – Seitenzahlen und Zitate wurden dem E-Book entnommen.
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Bibliografie:
Titel: „Tage im Mai. Roman dialogué.“
Autor*in: Marlene Streeruwitz
382 Seiten | 26,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 25.01.2023
Verlag: S. Fischer
ISBN: 978-3-10-397350-1
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Kategorien:Home, Neuerscheinungen
Danke für diese Buchempfehlung. während des Lesens begann ich mich zu erinnern, dass ich bereits ein Buch von ihr gelesen hatte, jenes über die Coronnazeit. Ich fand es damals scharfsinnig, klarsichtig und treffsicher, aber auch sehr düster.
Ich versuche es nun noch einmal und bin gespannt.
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Gerne! Ich bin mir recht sicher, dass alle Bücher der Autorin in etwa so beschrieben werden können – wem der elliptische Stil bekommt, dem werden sie gefallen. Ich mache mich auch definitiv an ein weiteres von ihr. 🙂
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Wie kann man „Ergänzungen beiwohnen“? Ich hoffe, nicht allzu anstößig.
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Als Nicht-Muttersprachlerin kann ich die Nuance persönlich nicht nachvollziehen, habe jedoch eine neutralere Formulierung gewählt.
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