Road Trip auf die dunkle Seite des Mondes. Lana Bastašić: „Fang den Hasen“ und „Mann im Mond“

Die bosnisch-serbisch-kroatische Autorin Lana Bastašić (* 1986) wurde für ihren als klug und schonungslos sowie grandios und vielschichtig gepriesenen Debütroman „Fang den Hasen“ (2021) für zahlreiche renommierte Literaturpreise nominiert und erhielt 2020 den Literaturpreis der Europäischen Union. In diesem Jahr erschien die Kurzgeschichtensammlung „Mann im Mond“, deren Erzählungen über Kinder in schwierigen bis furchtbaren Situationen berichten – mal düster, mal verstörend, immer poetisch und berührend.

Warum ist der Debütroman der Autorin so fesselnd – und lohnt sich ein Blick in die Storys? Im heutigen Beitrag erwartet Dich eine zweifache Buchbesprechung.


Lana Bastašić wurde in Zagreb als Kind serbischer Eltern geboren und wuchs nach dem Zerfall Jugoslawiens in Bosnien auf, verteidigte ihre Masterarbeit in Belgrad und erlangte in Prag ein internationales Zertifikat als Englischlehrerin. Überdies lebte Bastašić einige Zeit in Barcelona und weilte auf Einladung von Literaturhaus Zürich dort als Writer in Residence.

Sowohl der Debütroman „Fang den Hasen“ als auch die Erzählungen in der Sammlung „Mann im Mond“, übersetzt von Rebekka Zeinzinger, können als schonungslos, düster, gewandt, nuanciert und poetisch beschrieben werden. Bastašić‘ Sprache steht ihren kontrastreichen Schilderungen über dunkle Gedanken und tragische Erinnerungen gegenüber – ihre Leidenschaft und Hingabe bei der authentischen Konstruktion von Figuren und Landschaften ist so bedingungslos, dass weder auf Konventionen noch auf Regeln Rücksicht genommen wird.

Eben diese Eigenschaften verleihen dem erzählerischen Schattenreich von Lana Bastašić ihre bodenlose Intensität und lassen ihr teils schauriges, teils markantes Echo noch lange nach der Lektüre zwischen den Ohren von Lesenden erklingen.

Roman und Erzählungen überzeugen beide, doch mit variierender Methodik. Argumentativ sind diese Formen auch auf äußerst unterschiedliche Lesendengemüter ausgerichtet, doch hier mag jede*r selbst mithilfe der Leseprobe entscheiden.


„Fang den Hasen“


© S. Fischer

„Fang den Hasen“ ist ein Abenteuer- und ein Reiseroman, der packt und fesselt, doch nirgendwohin führt und selten lustig ist.


Bastašić unternimmt die Obduktion einer aufregenden Kindheitsfreundschaft, die sich ohne rosarote Brille doch meist als Zweckgemeinschaft entpuppt.

Sie geht einer Erinnerung an Liebe auf den Grund – die vielleicht eine vollständige Täuschung war.

Mit feinem Pinsel malt Bastašić die schonungslose seelische Landschaft einer schwierigen Jugend aus.


Geographisch und sachlich betrachtet handelt „Fang den Hasen“ von einem Road Trip zweier Jugendfreundinnen von Mostar nach Wien, emotional unternehmen die zwei Frauen allerdings eine unangenehme – und in Teilen unfreiwillige – Reise in die Vergangenheit.

Währenddessen werfen beide Figuren einen Blick in die tiefsten Furchen und Schichten ihrer Kindheitsliebschaften und lichten Risse in diversen Nostalgiebildern ab.

Bastašić malt Freundschaften aus, deren emotionale Tiefe gerade darin besteht, dass sie nach einer näheren Untersuchung alle Facetten einer menschlichen Beziehung aufzeigen. Dass gemeinsam schwierige Zeiten durchzustehen nicht gleichzeitig heißen kann, eine Freundin wäre nicht alleinhändig die Urheberin der fatalen Kausalitäten gewesen. Dass „schöne Kindheit“ nicht automatisch heißt: „für jedes Familienmitglied“.

Die Autorin hat eine eigentümliche Art und Weise mit ihren Figuren und mit dem Erzählen an sich umzugehen. Ihre Methode, sich einem Text mittels einer Exposition zu nähern – und währenddessen die Erzählerin das Nähern als Prozess dekonstruieren zu lassen – zeugt von Kreativität, Persönlichkeitsstärke und einer tiefen Reflexionsgabe. Bastašić bricht Grenzen, Regeln, Konventionen, sowohl im sprachlichen als auch im strukturellen Sinne eines Romans. Und sie tut es meisterhaft.

Hinzu kommt die äußerst ambivalente und konfliktreiche Figurendynamik dieses Romans, der interpretativ nur Antagonisten besitzt. Die Diskrepanz der süßlichen Nostalgie und Sehnsucht nach Heimat und andererseits des panischen Zwangs sich von dem zu emanzipieren, was die Wurzeln einer Person ausmacht, bringt Bastašić auf der psychologischen Ebene ihrer Geschichte gekonnt zur Geltung.

Sowohl diejenige, die gegangen ist, als auch diejenige, die geblieben ist, hat das große Glück gefunden. Woran liegt das? Wer trägt die Schuld? Und wer führt ein besseres Leben?

Mittels der Kunst, Lesende auf die Folter zu spannen, gestaltet die Autorin eine bittersüße Leseerfahrung – denn Bastašić weiß, wie mit der Philosophie der-weg-ist-das-Ziel umzugehen ist. Der eine essenzielle Beweggrund, der ihre Protagonistin schließlich bis zum äußersten Rand ihrer Existenz treibt, löst sich bis zum Ende der Geschichte fast in Gänze auf.

Auch wenn dieser Grund sich gleichzeitig an ihrem geographischen, familiären Ursprung befindet und mit ihrer Identität untrennbar zusammenhängt. Für eine der Freundinnen ist es die Suche nach einem verschollenen Bruder, für die andere die ersehnte Antwort auf die Frage: liebte er mich?

Doch der Weg zum Ziel führt ganz woandershin, immer weiter auf die dunkle Seite des Nostalgieplaneten.

Sowohl das Verliebtsein als junges Mädchen, die durch Nostalgiefilter als schön erinnerten Jugendmomente, die vollständig divergierenden Perspektiven anderer Zeug*innen, begegnen einander – und erfahren Desillusionierung aus der Realität derjenigen, die „geblieben“ sind.

Die Ebenen der passiven Verachtung, der tief glühende Kontrast zwischen zwei Lebensmodellen, zwei erwachsener Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten – alle diese Facetten bilden das Netz aus psychologischen Feinheiten, deren Fäden Bastašić auf der Figurenebene immer wieder zusammenwebt.

In dieser innigen Tiefe und mit dieser liebevollen Gründlichkeit hat die Autorin eine Geschichte entworfen, die mutig, vielschichtig, unfreundlich, unglaublich traurig sowie unglaublich echt wirkt – und von Seite eins bis zum Schluss vollständig fesselt. Das Ende ist so abrupt, dass es sich nach einer bittersüßen Trennung von einer heiß geliebten Freundin anfühlt. Obwohl nicht alle Momente mit der besagten Freundin schön waren.

Meinerseits gebe ich für „Fang den Hasen“ eine uneingeschränkte Leseempfehlung.


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„Der Mann im Mond“


© S. Fischer

„Der Mann im Mond“ trägt eine andere Dynamik und fesselt mit anderen Methoden als „Fang den Hasen“.

Die Erzählungen besitzen jedoch einen mindestens ebenso intensiven – wenn nicht noch stärkeren – Nachhall.

Die Momentwirkung ist härter als beim Roman, der zwar auch nach und nach emotionale Schläge auf Lesende hinunterprasseln lässt, doch gleichzeitig im ruhigen Tempo die bosnischen Dörfer, Verhältnisse und Individuen beschreibt, die zwei Freundinnen auf der Fahrt nach Wien begegnen.

Jede der Erzählungen hingegen teilt sofort aus. Das Geschehen wird schnell und immer schonungslos geschildert.

Auch in Erwartung dessen, was kommt, wenn mensch schon bei der vierten Geschichte angelangt ist und Bekanntschaft mit den Kindern gemacht hat, die hier stets als Progagonist*innen gewählt worden sind.

Eine klare Triggerwarnung gilt für die meisten Erzählungen, da sie sich mit dem Thema Kindesmissbrauch beschäftigen – sei dieser emotional oder körperlich, angedeutet oder explizit.

Mal sitzt ein übergewichtiger Junge nach dem Schwimmunterricht mit seinem Vater im Café und lässt den Vormund sich verbal vollständig zerstören – bis ein Superheld zu seiner Rettung erscheint. Mal liegt ein Mädchen abends im Zimmer und wird von einer nach Zigaretten riechenden Zahnfee gestreichelt.

Und manchmal wird nur subtil auf die schmerzvolle Kindheit eines Vaters hingewiesen, der die eigenen Söhne zur in suspekten Maßen liebevollen Großtante zum Kaffeekränzchen bringt.

Bastašić‘ Erzählungen erinnern strukturell oft an klassische Märchen, in denen entweder magische Helferfiguren zur Rettung auftauchen oder die „bösen“ ihre Bestrafung entweder durch die Kinder selbst oder durch höhere Gewalt finden. Doch wiegt das schöne Ende die entsetzliche Kindheit meist nicht auf, die Erzählungen sich dahingehend hochgradig traumatisierend – oberflächlicher sogar vielleicht für Lesende am Text, umso tiefer schneidend beim Bedenken, dass solche Situationen eher üblicher- als ausnahmsweise vorkommen.

Mehr kann mit dem Anspruch spoilerfrei über den Inhalt der Erzählungen nicht verraten werden.


Zusammenfassend bleibt es dem persönlichen Geschmack überlassen, ob nun „Fang den Hasen“ oder „Mann im Mond“ zum Präferenzwerk der Autorin wird. Meinerseits hat der Roman voll und ganz überzeugt, doch sind Kurzformen eben auch nicht unbedingt mein Präferenzmedium.

Zweifelsohne sind jedoch das erzählerische Können und die markante Wucht von Lana Bastašić anhand beider Lektüren zu lobpreisen und die Leseproben beider Texte Dir wärmstens ans Herz zu legen – auch wenn mein Herz vielleicht ein paar Zentimeter höher für „Fang den Hasen“ schlägt.

Ich bin bereits enorm gespannt auf den nächsten Roman der Autorin.

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Bibliografie:

Titel: Fang den Hasen
Originaltitel: Uhvati zeca
Autor*in: Lana Bastašić
Übs.*in: Rebekka Zeinzinger

336 Seiten | 14,00 € (D) (Tb)

Erscheinungsdatum: 25.01.2023(Tb)
Verlag: S. Fischer
ISBN: 978-3-596-70771-3 (Tb)

Titel: Mann im Mond
Originaltitel: Mliječni zubi
Autor*in: Lana Bastašić
Übs.*in: Rebekka Zeinzinger

208 Seiten | 24,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 25.01.2023
Verlag: S. Fischer
ISBN: 978-3-10-397153-8

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