Brutaler Blues. Gayl Jones: „Corregidora“

Die US-Amerikanische Romanautorin, Dozentin und Dichterin Gayl Jones (* 1949) gehörte bereits seit ihren ersten Veröffentlichungen in den 1970er Jahren zu den wichtigsten zeitgenössischen Vertreter*innen Schwarzer Literatur. Für ihren ihren neuesten Roman „Palmares“ (2021) wurde sie für den Pulitzer-Preis nominiert.

In ihrem Debütroman „Corregidora“ konstruiert Jones in einer dynamischen, melodischen Sprache verstörende Szenen und zeigt brutale Realitäten gekonnt auf. Doch für welche Leserschaft ist diese heftige Lektüre zu empfehlen?


© kanon

Gayl Jones‘ Debütroman „Corregidora“, neu übersetzt von Pieke Biermann, erschien im Original im Jahr 1975.

Entdeckt und veröffentlicht wurde das Buch erstmalig durch Toni Morrison.

„Corregidora“ erhielt nicht nur dank Morrisons Zuspruch reichlich Aufmerksamkeit: als Vorbote der weiblichen Schwarzen Renaissance in den 1980er Jahren und zeitgenössisch zum Höhepunkt der Black Arts Movement in den 1960er und 70er Jahren war Jones‘ Debüt zu seiner Erscheinungszeit hochgradig aktuell.

Nach dem Suizid ihres Ehemannes im Jahr 1998 zog Jones sich aus dem öffentlichen Leben zurück – 1999 erschien noch ihr vierter Roman „Mosquito“.

Ihre schriftstellerische Tätigkeit setzte die Autorin jedoch stets fort.

Die Neuentdeckung von Jones‘ Werk (in deren Rahmen der zweite Roman übrigens bereits für das kommende Jahr in deutscher Übersetzung geplant ist) steht unter dem Zeichen einer Vielfalt Schwarzer Literatur, die in den letzten Jahren erschienen ist.


Sein Alter merkt man*frau „Corregidora“ nicht an. Auch im Jahr 2022 kann diese inhaltlich mutige, sprachlich inspirierende Leistung als revolutionär betrachtet werden.

„Corregidora“ ist eine brutale Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, den Narben generationsübergreifender Traumata, der gewaltvollen Unterdrückung und dem Missbrauch von versklavten Personen – und mit der Relevanz des familiären Erbes auf der Suche nach individuellen Identitäten.


[…] und wir sollen das genau so weitergeben, von einer
Generation zur nächsten, damit wir es nie vergessen.
Auch wenn die alles verbrannt haben und
vorgaukeln, das hätte es nie gegeben.“(13f.)


Die der Protagonistin Ursa aufgetragene Mission, „Generationen zu machen“, damit die von ihrer Großmutter an die Mutter an sie übertragenen historischen Schmerzen und persönliche Geschichten nie vergessen werden können, ist einerseits imperativ, wenn es um authentische Erkennbarmachung Schwarzer Geschichte und Reproduktion von Aussagen von Zeug*innen sowie Überlebenden brutalen Sklavenhandels geht.

Andererseits erdrückt die seelische und emotionale Last der Mütter ihre Töchter graduell in Gänze.

Wie lange müssen die tiefen Narben und ertragene Gewalt der Urgroßeltern zur Schau getragen werden, bis die Schuld ihrer unmenschlichen Urheber*innen anerkannt ist? Die Anzahl der notwendigen Generationen ist mit Ursa noch nicht erreicht worden.


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Auch wenn Ursa aus schockierenden Gründen (die direkt zum Beginn der Geschichte feststehen, an dieser Stelle dennoch aus Spoiler-Gründen nicht erörtert werden) nicht imstande ist, weiter „Generationen zu machen“, setzt sie ein entsprechendes Lamento in Form von Gesang fort.

Ursa singt abendlich in diversen Cafés in Kentucky: vom unergründlichen Bösen, von universalen Schmerzen und denjenigen besonderen Leiden eines Liebenden, von der Unterdrückung seitens Mächtigerer – seien diese weiß, männlich oder schlichtweg gesellschaftlich übergeordnet.

Ihre Stimme überträgt sich auf die sprachliche Ausführung der gesamten Geschichte und tönt nicht nur die Erzählkulisse, sondern den gesamten Text in den Farben des Blues.


Vielleicht können Männer einfach nicht aushalten,
wenn eine Frau genauso hart ist wie sie.“(47)


Ursas grobe Innenwelt – und Umwelt, in gegenseitiger Wechselwirkung – sind voller Sex, Gewalt und Machtkämpfe – Ursas Art, Gefühle, Gedanken, Liebe, Hass, auszudrücken, ist meistens körperlich.

So sind Ursas Leidenschaften eng an Körperteile, Geschlechtsverkehr, physische Liebe und einen rauen Umgang gebunden – was sich im Roman sowohl stilistisch als auch thematisch widerspiegelt.


Nicht nur die Protagonistin ist auf eine schockierende Art und Weise verhärtet: ihre Freundinnen, Familienmitglieder und Kollegen können ebenso als hart beschrieben werden. Jede*r ist hier für sich und das eigene Überleben verantwortlich. Fürsorge, zärtliche Umarmungen und emotionale Liebesgeständnisse haben im Alltag der Corregidoras nichts zu suchen.

Es wird geschlagen, gef*ckt und geschrien. Geschundene Körper werden nicht betrauert – da klar ist, dass der Zustand ohne Wenn und Aber und selbstständig überwunden werden muss.

Denn die vorangehenden Generationen lebten ihre miserable Existenz in wesentlich grausameren Umständen.


Während Ursas Gesang an sich eher weniger zur Geltung oder zur Ausformulierung kommt, ergänzt Jones die Atmosphäre sowie die emotionale Intensität – anhand der Dialoge zwischen ihr und anderen Figuren sowie den erzählenden Passagen in einer ebenso charakteristisch rauen, tiefen, bluesigen, in die Haut und die Seele schneidenden Stimme.


Ich bin Ursa Corregidora. Ich habe Tränen statt Augen.“(88)


Im Nachwort geht die Übersetzerin Pieke Biermann auf diverse Problematiken und sprachliche Divergenzen ein, die die Überlieferung ins Deutsche um einiges erschwerten – da es sich um eine argumentativ weniger fließende und musikalische Sprache an sich handelt.


Insofern wäre die Lektüre im Original höchstwahrscheinlich empfehlenswert, so auch kurze Passagen dies im Nachwort indizieren.

Dennoch bleibt „Corregidora“ auch in der Neuübersetzung und auf Deutsch ein unglaublich lesenswerter Zeitzeuge, den es für Interessierte an Schwarzer Geschichte und Liebhaber*innen von sehr intensiven Lektüren unbedingt zu entdecken gilt.

Meinerseits bin ich bereits sehr gespannt auf den nächsten Jones im kommenden Jahr.

Hier geht’s zur Leseprobe.

Bibliografie:

Titel: Corregidora
Autor*in: Gayl Jones
Übs.*in: Pieke Biermann

220 Seiten | 23,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 17.08.2022
Verlag: kanon
ISBN: 978-3-98568-039-9

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