Tränen im Vakuum. Sofi Oksanen: „Putins Krieg gegen die Frauen“

In ihrem neuesten Essay „Putins Krieg gegen die Frauen“ zeichnet Sofi Oksanen ein detailliertes, entsetzliches und gelungenes Panorama der europäischen Zeitgeschichte. Die Autorin bettet den russischen Angriffskrieg in der Ukraine in den historischen Rahmen des Russischen Kaiserreichs und der Sowjetunion ein – und stellt ein komplexes, faszinierendes und grausames Netz an Zusammenhängen her.

Oksanen durchleuchtet Dekaden des Kolonialismus, der durchgehenden Tyrannei und des systematischen Terrors in der russischen Innen- und Außenpolitik. Die Autorin erörtert, wie sexuelle Gewalt von russischen Soldaten als Kriegswaffe sowohl in Estland und der Ukraine als auch in den ehemaligen ‚Ostblockländern‘ sowie zahlreichen Kolonien genutzt wurde und wird – und wie Frauenfeindlichkeit weiterhin als essenzielles Instrument der internen Zentralisierung der Macht fungiert.


Die finnisch-estnische Schriftstellerin und Dramaturgin Sofi Oksanen ist vor allem für ihren dritten Roman „Fegefeuer“ bekannt, der in über vierzig Ländern erschienen ist. Die Autorin wird sowohl mit Margaret Atwood als auch mit Charles Dickens verglichen. Ihre Romane spielen allerdings in Estland, Finnland – und im letzten Roman „Hundepark“ auch in der Ukraine.

Der Essay „Putins Krieg gegen die Frauen“, übersetzt von Angela Plöger und Maximilian Murmann, obduziert bekannte und weniger bekannte Facetten der russischen Propagandamaschine, analysiert soziopolitische Zusammenhänge zwischen den Eroberungen des russischen Kolonialimperiums, der Sowjetunion und dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine – und stellt viele persönliche Bindungen zur eigenen Familiengeschichte her.


„Die ehemaligen Ostblockländer machen die Hälfte Europas aus
[…]

dessen ungeachtet ist diese Erfahrung
nicht zu einem Teil des westlichen Gedächtnisses geworden,
sie wurde nicht zu einer historischen Erinnerung ganz Europas.“(16)


Mit einer beeindruckenden Bandbreite zeigt Oksanen zunächst auf, wie und warum osteuropäische Geschichte in westlichen Perspektiven und Veröffentlichungen kaum Beachtung findet; wie die Zeitgeschichte dieser Länder weiterhin als zweitrangig gilt und wie gesamtgeschichtliche Zusammenhänge auch in aktuellen Analysen selten behandelt werden.

Sie hebt in diversen Kontexten kritisch hervor, wie die „entmenschlichende Rhetorik der Sowjetunion die Menschenrechtsverbrechen im Ostblock“ (100) rechtfertigte und wie diese Ereignisse zu keinem Lehrplan westlicher Länder gehören.


Im Vordergrund des Essays stehen zunächst familiäre Kontexte: Oksanens Großtante war während der zweiten Besetzung Estlands durch die Sowjetunion immenser sexueller Gewalt ausgesetzt, sie wurde „abgeholt zu Verhören, die die ganze Nacht andauerten, und danach hat sie aufgehört zu sprechen.“ (13)

Aus diesem Familientrauma ausgehend beansprucht Oksanen mit ihrem Essay nicht nur, ihrer Großtante eine Stimme zu geben, sondern die systematische Instrumentalisierung von sexueller Gewalt seitens russischer Kriegsorgane, Institutionen und Individuen zu zeigen, zu erklären, zu durchleuchten – auf die unmenschlichen Verbrechen hinzuweisen, die derzeit täglich in der Ukraine stattfinden, und die Methodik dahinter in einen breiteren historischen Kontext zu stellen, um Erkenntnis und Wissen zu und über osteuropäische Zeitgeschichte zu fördern.


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Als Estin und an meiner eigenen Landesgeschichte interessierte Person stellte der Essay – der meines Erachtens in puncto Sachlichkeit, Bandbreite, Recherchen und Sekundärliteratur durchaus auch als Monografie gelten könnte, doch vom Verlag und somit wahrscheinlich von der Autorin selbst als Essay eingeordnet worden ist – eine immense informative Bereicherung dar, so sehr belastend das Buch emotional auch ist.

Sofi Oksanen zeigt Wahrheiten auf, die Europäer*innen sich vor Augen führen müssen, um ein realistisches Weltbild bezüglich ihrer unmittelbaren Umgebung zu erhalten.


Dieses Buch ist in Russland illegal.(68)


Einen großen Teil dieser Realität macht der russische Propagandaapparat aus, der den Bürger*innen Russlands seit Dekaden einen Zerrspiegel der Außenwelt vorhält.

Oksanen vergleicht die jetzigen propagandistischen Methoden, Mittel und Wege mit denjenigen der Sowjetunion und erzählt beispielsweise, wie russische Familien nach Estland geschickt worden sind und Est*innen als Barbaren und Wilde betrachteten – während allerdings der Analphabetismus der Russ*innen wesentlich höher war und es unter Est*innen die Norm war, in puncto Tagesthemen, Geschichte und Politik Interesse und Eloquenz zu kultivieren (im Käfig des Erlaubten und darüber hinaus nur im Privaten, versteht sich).

Doch berichtet Oksanen auch, wie beispielsweise ihre Großmutter in einem selbstständigen Estland aufgewachsen war, von einer Verkäuferin auf eine Anfrage auf Estnisch „ein Knurren“ und eine Antwort erhalten habe, sie solle „gefälligst eine Menschensprache“ sprechen. An dieser Stelle wird eine weitere Parallele zu den Folterern in der Ukraine gezogen, die ihren Opfern befehlen „nicht diese Schweinesprache“ zu sprechen. (96)


Zehn Frauen hat er vergewaltigt –
das hätte ich ihm nicht zugetraut.

Er hat uns alle überrascht.
Wir beneiden ihn alle.“(199)


Vielleicht der entsetzlichste Teil des Essays ist die unbehagliche Offenbarung der Feindlichkeit russischer Frauen gegenüber den Ukrainerinnen, die – aufgrund der Sozialisierung in einer durch und durch von Propaganda gezeichneten Welt – eine vollständige Entmenschlichung aller Nichtrussinnen für normal halten und ihren Männern nicht nur die Erlaubnis erteilen, sie „zu vergewaltigen, wenn er nur ein Kondom benutzte,“ (123) sondern stolz auf die als Triumph eingestuften Verbrechen der Soldaten sind.

Des Weiteren erörtert Oksanen die in den ehemaligen Sowjetländern weiterhin gängige frauenfeindliche Rhetorik; beispielsweise das Sprichwort wer liebt der schlägt und weitere Verwandte Ausdrücke als Indiz der normierten Umgangsweise russischer Männer mit Frauen (141) sind auch in meinem estnischen Umfeld nicht unbekannt.

Ebenso ist es enorm interessant zu lesen, warum und wie Putins Karriere eigentlich begann (180ff.) – denn obwohl Oksanen einen langen und facettenreichen Weg über vorrangig kulturhistorische und soziopolitische Kapitel geht und über viele osteuropäische Länder sowie russische Historie spricht, gelangt sie im letzten Drittel des Essays zu Putins Werdegang, Persönlichkeit, Sozialisierung und Innenwelt.

Somit mag der Titel des Essays zum Beginn der Lektüre zwar etwas verwirrend klingen, doch steht an dieser Stelle ganz klar fest, dass ebendiese Aspekte des Krieges Schlüsselelemente sind und unbedingt, dringend, gesehen werden müssen. Somit wird Oksanen den thematischen und inhaltlichen Ansprüchen des üppigen Essays mehr als gerecht.


Obwohl Oksanen zum Schluss des Buchs über die Revolution der Gleichberechtigung spricht und eine beeindruckende Liste der Frauen in derzeitigen oder ehemaligen Führungspositionen einfügt (192ff.), kehrt sie im Epilog des Essays zur ursprünglich düsteren Tonalität zurück, als sie im Tate in London in einer zeitgenössischen Ausstellung vergebens nach osteuropäischen Künstler*innen sucht.

Es gilt, gemeinsame, schnelle und resolute Schritte in puncto historische Perspektivenerweiterung und solidarische Kollektivleistung zu gehen – und einen genauen, kritischen, aktiven Fokus auf Russland zu richten. Sofi Oksanens Monografie ist ein wertvolles, wichtiges, hilfreiches Sammelsurium an relevanten Informationen, um diejenigen Verhaltensmuster und Mittel zu erkennen und zu bekämpfen, die Russland seit Dekaden für unbestrafte Kriegsverbrechen nutzt.

Oksanen weist Lesende in ihrem Buch darauf hin, aufgrund welcher historischen Besonderheiten welche aktuelle Gefahren deutlich werden, ruft dazu auf, die enorme Anzahl der bis dato unsichtbar gebliebenen Verletzungen von Menschenrechten zu bestrafen und das Monster Russland endlich konsequent einzugrenzen.

Sofi Oksanens Essay „Putins Krieg gegen die Frauen“ ist ein gehaltvoller, enorm informativer, spannender, erhellender und kühner Essay – und somit genau derjenige Spiegel, den Westeuropa aktuell benötigt. Als Estin habe ich aus diesem Buch unglaublich viel gelernt, somit können Westeuropäer*innen hier sicherlich eine noch größere Bereicherung finden. Daher spreche ich an dieser Stelle eine eindeutige Leseempfehlung mit Nachdruck aus.

Bibliografie

Titel: Putins Krieg gegen die Frauen
Autor*in: Sofi Oksanen

336 Seiten | 24,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 08.02.2024
Verlag: Kiepenheuer&Witsch

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