Kammerspiel des Grauens. Patrícia Melo: „Die Stadt der Anderen“

Die brasilianische Autorin Patrícia Melo beschreibt in ihrem neuesten Roman „Die Stadt der Anderen“ das facettenreiche Straßenbild von São Paulo. Von luxuriösen Wohnanlagen zu stinkenden Müllhalden, vom tiefsten Grab des Friedhofs zur höchsten künstlerischen Transzendenz – es entsteht ein entsetzliches Kammerspiel mit den intensivsten psychologischen Tonalitäten.

Melo nimmt Lesende mit auf eine ereignisreiche Reise entlang staubiger Straßen; voller Strapazen, Schmerzen und Ungerechtigkeit; auf einen Weg ohne Ausweg. Ihre Erzählwelt gleicht einem Kaleidoskop des Elends, gemalt in düsteren Farben, gefüllt mit menschlichen Scherben – und fesselnd von Anfang bis Ende.


Das sozialkritische Werk von Patrícia Melo besteht aus Kriminalromanen, Hörspielen, Theaterstücken und Drehbüchern. Stets setzt die Autorin sich literarisch mit der Gewalt und Kriminalität in Brasiliens Großstädten auseinander, Der Roman Gestapelte Frauen, sowohl gesellschaftskritischer Gegenwartsspiegel als auch entsetzenerregende Schilderung der gefährlichen Lebensumstände der Frauen in Brasilien, wurde in diesem Blog bereits mit Nachdruck gelobt und empfohlen.

Patrícia Melos neuester Roman „Die Stadt der Anderen“, aus dem Portugiesischen übersetzt von Barbara Mesquita, bewegt sich ebenso in São Paulo und ist somit statischer als „Gestapelte Frauen“ – fließt jedoch mit stets wechselnden Erzählperspektiven dynamisch durch die staubig-blutigen Straßen der Metropole.


Er hatte schon hochfliegende Träume gehabt:
exotisches Fruchteis in alle Welt verkaufen.
Im eigenen Boot den Atlantik überqueren.
[…]
Wovon träumte er jetzt? Eine Arbeit zu haben. […]
Seine Rechnungen bezahlen zu können.“(79)


Aus wechselnden Perspektiven zeichnet Melo das Panorama einer Großstadt voller Gewalt, Ungerechtigkeit und Armut. Die Handlung schreitet zwar stringent vorwärts, verbleibt jedoch ohne klaren Fokus auf eine Figur: es werden zahlreiche Menschenleben miteinander verwoben, die ein fesselndes Ganzes ergeben.

So erfahren Lesende über die hochtrabenden Pläne von Chilves, der nach einem Raubüberfall im Gefängnis sitzend eine neue Lebensphilosophie findet und sich als Prophet und Lehrer etablieren möchte – und seine Freundin Jessica, die sowohl mit ihrer Schwangerschaft als auch ihrer Drogensucht kämpft.

Wohl gemerkt: All dies nebst einer elenden Existenz als Obdachlose, unter täglicher Tyrannei von der Polizei.


Des Weiteren folgen wir dem Totengräber Douglas, der sich am anderen Ende der Kausalitätenkette zurechtfinden muss, als die Polizei ihn unfreiwillig als Komplize beim Entsorgen von ermordeten Obdachlosen rekrutiert. Eine Wahl oder ein Wille für das Individuum vor dem korrupten Gesetzesvertreter besteht in Brasilien generell nicht, wie an zahlreichen Stellen erörtert wird, die den gewaltvollen Kontakt zwischen Polizei und Bürger beschreiben.

Douglas entscheidet sich zwar, für Gerechtigkeit zu kämpfen und einer Mutter zu helfen, die ihren Sohn an die Polizeibrutalität verloren hat – doch mit seinem Beschluss bringt er seine gesamte Familie in Lebensgefahr.


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Weitere Elemente in Melos Kaleidoskop des Elends sind die transsexuelle Glenda, die sich parallel zum eigenen Überlebenskampf im Kollektiv um die Gemeinschaften in besetzten Häusern kümmert und versucht, sich aktiv gegen die Räumung durchzusetzen – währenddessen täglich Gewalt erlebend und nebenbei noch Jessicas Kampf ums Sorgerecht begleitend und unterstützend.

Die Solidarität zwischen den obdachlosen Individuen – seien es die Protagonist*innen oder die ebenso interessanten Nebenfiguren – trotz ärmlicher Umstände und ständiger Angst ist bewundernswert, doch nicht absolut. Es wird kontrastierend gezeigt, wie im eigenen Interesse Territorien verteidigt und Fremde ausgebeutet werden. Auch obdachlos sein muss erst einmal gelernt werden.


Das bereits fulminante Panorama streckt sich noch weiter, über die Grenzen Brasiliens hinaus, am Beispiel des Venezolaners Seno Chacoy. Mit Träumen und Ambitionen kommt Chacoy nach Brasilien, als Fremder und Krüppel wird er von der Großstadt wieder ausgespuckt.

Dies führt ihn zu verzweifelten Taten – mit fatalen Konsequenzen für andere Protagonist*innen.


Glenda kannte dieses Arrangement gut.
„Such dir einen aus, der nicht so schlimm ist“,
hatten ihre Freundinnen ihr geraten,
[…]
selbst wenn er dich verprügelt, […]
hast du zumindest eine Chance,
am Leben zu bleiben.““(123)


Mitten im geordneten Chaos dieser individuellen Tragödien bewegt sich der obdachlose Schriftsteller Iraquitan, der entdeckt und veröffentlicht wird. Seine eklektischen Hefte sollen die Essenz der Straßen auf eine noch nie gesehene Art und Weise einfangen – und aus ihm wird eine literarische Sensation.

An keinster Stelle übernimmt einer der Figuren das Rampenlicht – sie teilen sich das gleiche Elend. Ihre Leben sind austauschbar, ihre Körper gehören ihnen nicht, sie werden als wertlos behandelt und von Stärkeren missbraucht und unterdrückt.

Die psychologische Finesse der jeweiligen Figuren lässt einen noch intensiveren Sog entstehen: obwohl das Tempo der Handlung zügig ist und nie wirklich verlangsamt, bewegt jede der Figuren zum Nachdenken und Innehalten, fasziniert mit einer eigenständigen Innenwelt und einer schwierigen Vergangenheit; erweckt Sympathie mit den fürchterlichen Umständen, die sie täglich zu bewältigen hat – und inspiriert Respekt mit der unglaublichen Resilienz, die sie in diesem Kontext zutage bringt.


Melo lässt eine haarsträubende Ruhe über dieses entsetzliche Elend schweben – indem sie das perspektivische Gleichgewicht und die sprachliche Geradlinigkeit beibehält. Der Text bewegt sich im erzählerischen Sinne ständig fort und springt im kompositorischen Sinne immer wieder zwischen den Hauptfiguren – sodass die Kreise, die Melos Karussell der Hölle dreht, sich zwar ähneln, doch es jedes Mal eine andere Figur ist, die die nächste Runde im eisernen Stuhl drehen muss.

Mittels der wechselnden Perspektiven zeigt sie überdies das Innenleben diverser Institutionen – von Strafanstalt zu Rehabilitationsklinik –, und wie diese lediglich ihrem eigenen Zweck dienen, das Vertrauen mittelloser Menschen zwischen ihren Zahnrädern zermalmen und mit Gewalt und Unterdrückung den kleinstmöglichen wirtschaftlichen Gewinn aus bereits extrem entmenschlichten Umständen quetschen.


Peng, sie spürte,
wie gleich der erste Zug reinknallte.
[…]
Ein Schlag Freude, mitten ins Gesicht.
Und in diesem magischen Rausch
fühlte sie sich zum ersten Mal
„total schwanger“.“(163)


Wegzuschauen oder den Rummelplatz des Grauens zu verlassen ist an dieser Stelle nicht mehr möglich – dieser Sog des Entsetzlichen ist gleichzeitig dermaßen fesselnd, dass das Buch vom heftigen Beginn bis zum erschütternden Ende gelesen werden muss. Das Entsetzen und das Elend greifen des Öfteren so plötzlich, dass zunächst eine Desensibilisierung notwendig wird – doch nach zweihundert Seiten Melo ist jeder Lesende für schwarze Szenarien gerüstet.

Kleiner Spoiler: einer einzelnen von fünf Figurenkonstellationen wird ein Happy End gegönnt, welches einen sehr hohen Preis hat. Alles andere hätte mich ehrlich gesagt aber auch schwer enttäuscht.


Patrícia Melos Erzählstimme ist wichtig, wertvoll, intensiv – ihre Bücher und Texte stets schwere Kost, sowohl im Vorspiel als auch im Abgang. Der Roman „Die Stadt der Anderen“ ist zudem eine authentische Skizze, nicht unähnlich echter Menschenleben, deren Schicksale in diesem Roman zwar grundlegend fiktional angepasst, doch hochgradig detailgetreu und realitätsnah wiedergegeben werden.

Es gibt alle diese Figuren und Schicksale, dieses Elend lebt und leidet auf den Straßen Brasiliens – weswegen Melos gesellschaftskritisches Werk so hochgradig tiefschneidend, enorm packend und in Gänze empfehlenswert ist.

Dass die Texte auch sprachlich überzeugen – hierzulande unter anderem dank hervorragender Übersetzung –, lässt mich der Leseempfehlung nur noch weiteren Nachdruck hinzufügen.

Bibliografie

Titel: Die Stadt der Anderen
Autor*in: Patrícia Melo

400 Seiten | 26,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 12.02.2024
Verlag: Unionsverlag

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1 Antwort

  1. Klingt sehr interessant, werde ich mir für die Zukunft einmal notieren.

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