Am Ende des Regenbogens. Carina Maggar: „Unzählige schlaflose Nächte“

Carina Maggar legt mit dem Buch „Unzählige schlaflose Nächte“ ein kunterbuntes sowie authentisches Sammelsurium an Coming-out-Geschichten vor, die von echten Stimmen aus aller Welt stammen. Die Storys sind in gleichem Maße von Akzeptanz und Humor wie von Gewalt und Trauma geprägt – sodass die Gefühle von Lesenden auf jeder neuen Seite genauso kontrastreich und unvorhersehbar ausfallen wie jeder einzelne Tag derjenigen queeren Personen, die als Inspiration für die einzelnen Erzählungen Dienen.


Die Londoner Werbetexterin, Autorin und Kreative Carina Maggar sammelt in ihrem zweiten Buch „Unzählige schlaflose Nächte“, aus dem Englischen übersetzt von Ulrich Korn, Coming-out-Geschichten und Erfahrungen als allen Ecken der Welt – darunter vermischt die queere Autorin auch Momente aus ihrem eigenen Leben.

Das Gefühlvoll-besondere vereint Maggar im Buch mit dem Informativ-allgemeinen, indem sie die Kontexte an den Lebensorten der Erzählenden in informativen Abschnitten zwischen den Storys erörtert.

Bereits in der Einleitung der Sammlung weist sie auf einer globalen Ebene auf das Ausmaß von Homophobie hin, die unter anderem die Anonymität ihrer Erzähler*innen motivierte.


Im Jahr 2023 gibt es siebzig Länder,
in denen Homosexualität strafrechtlich verfolgt wird.“(15)


In kleinen Abschnitten ergänzt sie die im Vorwort aufgelisteten allgemeinen Informationen an denjenigen Stellen, wo die entsprechend betroffenen Erzähler*innen ihre Coming-out-Storys schildern.

So zeichnet Maggar ein Panorama, welches nicht nur treffsicher zeigt, wie viel Hass, Verachtung und Homophobie von extremistischen Regimes weiterhin umgesetzt wird, der jeweiligen Gesetzgebung kritische Aufmerksamkeit einräumend – sondern behandelt auch die täglichen, ‚herkömmlichen‘ Probleme von queeren Individuen.

Vom Kennenlernen zur Liebe zur Ehe zur Schwangerschaft, von der Familienplanung zur Elternschaft zur Erbschaft – jede Station des ins soziale Umfeld gebundenen kollektiven Menschwerdens und -seins ist für queere Individuen mit zahlreichen Hürden und Hindernissen sowohl aus dem familiären als auch dem sozialen und staatlichen Umfeld ausgestattet, denen heteronormativ lebende Individuen fast nie begegnen müssen.

Maggars Story-Sammlung wäre somit als literarisches Hilfsmittel für Sensitivity und Diversity Trainings also als eine absolute Offenbarung zu rühmen, weil alle universalhumanen Existenzfelder mit echten Beispielen gedeckt und ergänzt und zugänglich gemacht werden können. Hier liegt ein Buch vor, welches so Bunt ausfällt wie der Regenbogen selbst, der die queere Community repräsentiert.

So authentisch und divers wie die Auswahl der Geschichten auch sei, so tonal divergierend fällt allerdings auch ihre Rezeption aus.


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Von der US-Amerikanischen Teenagerin über den Pfarrer im Herbst seines Lebens, vom einzigen Sohn orthodoxer Juden hin zur Mutter von drei Kindern in einer zehnjährigen heteronormativen Ehe – anscheinend sind in dieser Sammlung wirklich alle demographischen Gruppen inkludiert.

Dies ergab sich allerdings organisch: Maggar habe während ihres Studiums der Psychotherapie mit dem Thema Homosexualität beschäftigt und Menschen gebeten, ihre Briefe und E-Mails zu teilen, in denen sie sich outeten. Anschließend habe sie 85 Menschen in 16 Ländern interviewt, um alle Arten von Coming-out-Erfahrungen zu sammeln und zu schildern.


„Ich gehöre zu den wenigen Glücklichen,
die es geschafft haben, das Land zu verlassen.


Es ist sehr schmerzhaft, zu wissen, dass ich Freunde
zurückgelassen habe, die weiterhin leiden.“
(74)


An beiden Enden des Regenbogens, sowohl im Traum als auch im Albtraum können Lesende sich gemeinsam mit den Schreibenden wiederfinden: Maggar spricht diese Entscheidung bewusst an. Ihr sei es wichtig gewesen, das Spektrum queerer Realitäten auch in dieser Hinsicht im Gleichgewicht zu halten; die dunklen und frohen Seiten des queeren Lebens zu präsentieren.

Ergänzt wird das Buch durch impressionistisch-minimalistische Illustrationen, die inhaltlich essenzielle Momente aus den Storys visuell hervorheben und stärken.

Trotz offensichtlicher Begeisterung in vielerlei Hinsicht müssen auch einige Kritikpunkte hervorgehoben werden.

Meckern (auf hohem Niveau) möchte ich zunächst einmal an der Inklusivität seitens des Verlags: weder wird der Übersetzer Ulrich Korn auf dem Buchcover dargestellt (lediglich in kleiner Schrift im Buchinneren) noch auf der Webseite des Buchs genannt.

Des Weiteren wurden die Texte in meines Erachtens zu kleiner Schrift gesetzt, sodass aufgrund dieser auffälligen Kleinheit auch die Illustrationen und der ästhetische Gesamteindruck einbüßen müssen. Ältere Lesende, die nebst jüngeren Lesenden gerade eine solche Lektüre wie dieses Buch als wertvoll empfinden könnten, gegebenenfalls gar nicht als Printexemplar genießen können. Es bleibt auf den potenziellen Lichtblick E-Book hinzuweisen.

Dass hier in puncto Umfang und Preis ggf. ein Kompromiss eingegangen wurde, würde ich nachvollziehen wollen, denn die enorme Vielfalt und Diversität der Storys ist schon in sich ein wertvoller Aspekt. Doch resultiert die Wahl der Schriftgröße andererseits in Einschränkungen im Lesegenuss.

Meines Erachtens hätte eine bessere Lösung gefunden werden können.

Die Sprache empfand ich in Teilen als sehr einfach, weniger literarisch hochwertig als lediglich menschlich und zugänglich – ein recht subjektiv einzuordnender Aspekt, auf den mensch sich als Lesender dennoch einlassen muss und sollte, da im Dienste der Authentizität die Schilderungen oft im Originallaut gelassen worden sind.

Hätte ein Lektorat mit qualitativ höheren Ansprüchen in puncto Literarizität allerdings die Massentauglichkeit der in ihrer jetzigen Form authentisch-menschlichen Worte der Individuen eingeschränkt und gar verzerrt? Es bleibt Dir überlassen, Dich nach der Lektüre in den Kommentaren oder vor der Lektüre theoretisch und spekulativ zu äußern.

Beide Positionen wären in meinen Augen valide.


„Es mag im Augenblick unvorstellbar für dich sein,
aber wenn du im Leben an einen Punkt kommst,
an dem du dich in dir selbst wohlfühlst,
fühlt sich alles friedlich an.“
(168)


Wichtig ist aber schlussendlich die unterstützende, inspirierende, inklusive und moralisch-seelisch bereichernde Funktion der Sammlung: Ein positiver Grundton und eine hoffnungsvolle Botschaft ziehen sich trotz teils sehr düsterer Szenen und trauriger Geschichten durch das Buch. So steht am Schluss der Storys dennoch ein leitender Gedanke: in schönen und beängstigenden Momenten sind wir nie alleine.

Du bist mit Deinen Sorgen und Fragen nicht alleine.

Maggar erwähnt in der Einleitung des Buchs, dass von „all den fremden Menschen“ (14), die sie ansprach, nicht ein einziger das Gespräch über die Erfahrung ablehnte. Dass es also eine grundsätzlich unterstützende Haltung für queere Jugendliche und Menschen innerhalb der Community gibt, und dass ein offenes Ohr auffindbar wäre, ist eine grundsätzlich schöne Idee.

Hierzu liefert das Buch eine Liste tatsächlicher Ansprechpartner und Anlaufstellen, die helfen können, überhaupt einen Anschluss herzustellen: Es werden im Anhang zahlreiche Organisationen und unterstützende Institutionen für LGBTQIA+-Personen in Deutschland, Österreich und der Schweiz aufgelistet.

Trotz kleinerer Kritikpunkte möchte ich „Unzählige schlaflose Nächte“ gerne weiterempfehlen. Aufgrund der inhaltlichen Authentizität, der liebevollen und intimen Zusammenstellung, der informativen Reichhaltigkeit sowie der Ästhetik der Illustrationen hat mich das Buch insgesamt überzeugt.

Bibliografie

Titel: Unzählige schlaflose Nächte
Autor*in: Carina Maggar

176 Seiten | 20,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 23.02.2024
Verlag: Lawrence King

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