Der polnisch-britische Schriftsteller Joseph Conrad (1857–1924) zählt zu den wichtigsten englischsprachigen Autoren des 19. Jahrhunderts. Zu seinen bekanntesten Werken gehören die Romane „Lord Jim“ und „Nostromo“ sowie die Erzählung „Heart of Darkness“, ins Deutsche übersetzt unter dem Titel „Herz der Finsternis„.
Welche historischen Brennpunkte behandelt die sprachlich pulsierende Erzählung und warum besitzt sie weiterhin eine enorme Aussagekraft?

Joseph Conrads Erzählung „Herz der Finsternis“ ist erstmalig im Jahr 1899 erschienen. Auf Grundlage der Geschichte wurden mehrere Film-, Serien und Buchadaptionen entworfen, die sich mit der Grundthematik entweder im Detail beschäftigen – oder diese in ein anderes Milieu versetzen.
Die von der reinen Seitenzahl her recht kurze Erzählung beschreibt die Fahrt des belgischen Seemannes Charlie Marlow in den afrikanischen Dschungel und setzt sich während der Reisbeschreibung mit den ideologischen Motiven und globalen Auswirkungen des britischen Kolonialismus im zeitgenössischen Kontext auseinander.
Das Herz an sich kann sowohl als geographisches Reiseziel, reflexive Kulmination von Marlows Innenleben oder die mystische Figur des Stationsleiters Kurtz interpretiert werden, die sich alle (empirisch, kausal oder allegorisch) im finsteren Inneren des Dschungels befinden.
Conrads Gesamtwerk hat im Laufe der Zeit polarisierende Interpretationen und Behandlungen von Vertreter:innen weltweiter literarischer Kulturräume und Nischen erfahren. Eine solche Rezeption gebührte auch „Herz der Finsternis“.
Der Autor wurde beispielsweise vom britischen Schriftsteller George Orwell als globalisierungskritisch und mit einem außergewöhnlichen Weitblick gepriesen; vom nigerianischen Autor Chinua Achebe soll er hingegen als Rassist bezeichnet worden sein. (Wiki / JSTOR)
Um nun noch genauer auf die Erzählung „Herz der Finsternis“ zu fokussieren: dieser Text ist nicht nur inhaltlich polarisierend. Auch im rein sprachlichen Sinne ist der Text gehaltvoll, kontrovers, extrem und brutal.
Für diejenigen, die eklektische Texte, düstere Begebenheiten, historische Kontroversen und wilde Handlungen interessant finden, also grundsätzlich ein Buch von Interesse.
Es bleibt dennoch zu erforschen, ob und warum Conrads Text auch im laufenden oder im folgenden Jahr Relevanz und Reflexionsboden besitzt.
Aus stilistischer und sprachlicher Sicht gehört „Herz der Finsternis“ ganz klar zu den beeindruckenderen Produkten des literarischen 19. Jahrhunderts. Liest man den Text zumindest auf Englisch, fallen allerdings direkt so manche betagte Stilisierungen, veraltete Begriffe und zum Teil etwas überspitzt wirkende Satzkonstruktionen auf.
„The great wall of vegetation, an exuberant and entangled mass
of trunks, branches, leaves, boughs, festoons,
motionless in the moonlight, was like a rioting invasion
of soundless life, a rolling wave of plants, piled up, crested,
ready to topple over the creek, to sweep
every little man of us out of his little existence.“(26)
Dessen ungeachtet schneidet Conrads Œuvre in dieser Hinsicht recht neutral ab: man vergleiche nur mit anderen Klassikern aus dem 19. Jahrhundert wie etwa Dickens oder Dumas.
Im Vergleich mit einem längeren Text vom Autor (auch „Lord Jim“ habe ich in der Vergangenheit bereits geschmökert) sind selbstredend auch handlungsintensivere Passagen und Kapitel zu finden: diese Geschichte mit unter hundert Seiten (je nach Ausgabe) ist weder inhaltlich noch kompositorisch nicht mit einem längeren Roman zu vergleichen.
Sprachlich und stilistisch ist Conrads gut gesättigter, für den heutigen Lesenden etwas überspitzter, sehr intensiver Ton allerdings als vollständig der Zeit entsprechend einzustufen.
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Den Inhalt betreffend hebt Conrad sich jedoch weit ab von abenteuerlicher Unterhaltungsliteratur und erreicht sozialkritische Sphären, die seine Zeitgenossen kaum berührten.
„Herz der Finsternis“ ist im Groben eine einfache Reiseerzählung: der Seemann Marlow unternimmt eine Fahrt auf einem Flussdampfer inmitten des westafrikanischen Dschungels.
Die symbolische und allegorische Gewichtigkeit des Textes, die Bezüge zu Mythen, Tropen und Gemeinplätzen sind so zahlreich, dass der Text keineswegs als bloße Abenteuergeschichte gelesen werden kann.
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Ohne an dieser Stelle allerdings den Inhalt weiter zu verraten, möchte ich lediglich auf Aspekte hinweisen, die bei einer Lektüre von Interesse sind und die Entscheidung für oder gegen „Herz der Finsternis“ erleichtern können.
Die Bewunderung und Ehrfurcht der Natur, insbesondere in ihren mächtigsten Formen, beschäftigt Joseph Conrad – sowohl in dieser Erzählung als auch in seinen anderen Romanen, die sich mit Seefahrten und Seemännern auf Expeditionen in die ungezähmten Ecken der Erde beschäftigen.
„The earth seemed unearthly. We are accustomed to look upon
the shackled form of a conquered monster, but there –
there you could look at a thing monstrous and free.“(32)
Conrad behält eine durchgehend düstere, finstere, schwermütige Atmosphäre: sowohl seine Beschreibungen der Figuren, die um Marlow sitzen und seine Geschichte hören als auch die Geschichte selbst sind ausschließlich mit dunklen, bedrückenden, befremdenden Elementen ausgeschmückt.
Die Erzählung beginnt zwar mit einer kurzen Einleitung, doch wird man nach einem kurzen Exkurs zum Thema Krieg, Eroberung und Moral im Römischen Reich direkt in Marlows Geschichte reingezogen – man befindet sich quasi sofort mit und neben ihm auf der Flussmündung in Zentralafrika und fühlt die Hitze und Feuchtigkeit auf der eigenen Haut.
Eine gewisse Bereitschaft und Aufmerksamkeitsspanne sind also sofort vonnöten.

„Herz der Finsternis“ hat – sollte man sich von einer Verfilmung zur Lektüre verführen lassen – weder ein klimaktisches Ende noch eine übersichtliche, lineare Spannungsstruktur.
Diese Geschichte ist vorrangig ein Zeitdokument, welches durch Conrads gekonntem Sprachgebrauch zwar mit subjektivem Entsetzen ausgefüllt wurde, dennoch eher einen Zeugenbericht als eine Wertung darstellt.
Dass dem Ende zulaufend eine immer intensivere Desillusionierung, Entmythologisierung und kritische Entblößung westlicher Ideen, Strukturen und Machtorgane stattfinden, ist daher eine interpretativ subjektive Position meinerseits.
Insofern ist eine polarisierende Interpretation der Erzählung durchaus möglich und kann fortlaufend gerne in den Kommentaren unternommen werden.
Zusammenfassend ist „Herz der Finsternis“ ein unglaublich erdrückendes, sprachlich und inhaltlich intensives, historisch wichtiges und systemkritisch faszinierendes Stück Literatur, welches auf keinen Fall vergessen werden darf.
Dementsprechend möchte ich diesen kurzen Text jedem historisch interessierten, kritisch denkenden Individuum ans Herz legen.
Da ich in diesem Fall eine englischsprachige Ausgabe gelesen habe, in der aufgrund ihres günstigen Preises die Schrift auf ein Minimum gequetscht war, werde ich keine Bibliografie einfügen, sondern Links zu meinen affiliate Partnern zur Verfügung stellen, sodass Du eine Ausgabe Deiner Wahl aussuchen und direkt in die jeweilige Leseprobe schauen kannst.
Besonders interessant finde ich persönlich allerdings die zweisprachigen Ausgaben der Erzählung (deutsch-englisch).
Auf Deine Meinung zum Thema in den Kommentaren freue ich mich sehr.
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Vielen Dank!
Ist schon lange her, dass ich etwas von Joseph Conrad gelesen habe. Schön wieder daran erinnert zu werden. Vielen Dank! Ein besonderes Merkmal, an das ich sofort denke, im Rückblick, ist eben die teilweise über sich hinausbordende Sprache und der sprachlich eingeholte Versuch, den Kontrollverlust auszudrücken. Das Düstere bestand für mich in Conrads Texten stets darin, sich in die Sprache fallen zu lassen, von ihr abgestoßen, angestoßen, angezogen und wieder vertrieben zu werden. In diesem Sinne lese ich „Herz der Finsternis“ sehr ähnlich zu „Das Schloss“ von Kafka. Im Grunde rückt die Sprache dem Inneren nicht mit Erklärungen auf den Pelz, aber mit einem Tanz, un dieser Tanz ist der Dschungel, das Rascheln im Unterholz, oder das wogende Meer … dass er droht vergessen zu werden, liegt daran, dass momentan selbstreferentiell sich bestätigende Exklusionsmechanismen bevorzugt werden. Conrad öffnet, ohne zu finden. Er fällt, ohne aufzuprallen. Ein Schwindel ohne Ende. Ich mag ihn sehr! Viele Grüße.
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Ein sehr spannender Vergleich mit Kafka, vielen Dank für diese Ergänzung, lieber Alexander! Ein schönes Wochenende 🙂
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