Das Tagebuch der Anne Frank ist seit dem ersten Erscheinen im Jahr 1947 in in über siebzig Sprachen übersetzt worden. Es beschreibt die Jahre, in denen Anne und ihr Familienkreis sich vor den Nazis in einem Hinterhaus in Amsterdam versteckten – und machte das damals dreizehnjährige Schulmädchen zu einem der weltweit bekanntesten Opfern des Holocausts.
Welche neuen Nuancen verbergen sich in der literarischen Überarbeitung „Liebe Kitty“ – und weshalb ist „Nach dem Tagebuch“ eine hervorragende Ergänzung zur weltweit bekannten Geschichte der Anne Frank?
Aufgrund der inhaltlichen Zusammenhänge und der chronologischen Kausalität dieser zwei Bände möchte ich sie in einem Beitrag besprechen. Dies dient der Verdeutlichung der Vorteile der Tandemlektüre und vereinfacht Hervorhebungen in der Art und Weise der gegenseitigen Vervollständigung beider Bücher.
Liebe Kitty. Ihr Romanentwurf in Briefen

„Liebe Kitty“ ist die von Anne Frank selbst im Frühjahr 1944 literarisch überarbeitete Fassung des zuvor niedergeschriebenen Tagebuchs.
Die chronologischen Einträge sind als Briefe an die imaginäre Busenfreundin Kitty verfasst worden und positionieren auch Leser:innen in einer freundschaftlichen, vertraulichen Beziehung mit Frank, die hier ihre Geheimnisse, ihre Sorgen, ihre Ängste und ihren Kummer in einem innigen, doch komponierten Geständnis darlegt.
Obwohl das Wissen um die Überarbeitung vorliegt, ist es kaum möglich, nicht umgehend mit dem jungen Mädchen zu sympathisieren, welches sich jahrelang im Hinterhaus des Firmengebäudes ihres Vaters verstecken musste.
Aus der Perspektive eines um die folgenden Ereignisse Wissenden betrachtend erscheinen die ersten Sätze von „Liebe Kitty“ als enorm ergreifend:
„Es ist für jemanden wie mich ein sehr merkwürdiges Gefühl,
Tagebuch zu schreiben. […] weil ich glaube, dass sich später
niemand für die persönlichen Gedanken und Gefühle eines
dreizehnjährigen Schulmädchens interessieren wird […].“(9)
Ihre täglichen Gedanken und Details des Tages niederzuschreiben mag der jungen Anne Frank damals im Juni 1942 noch befremdend und ungewohnt vorkommen, doch entwickelte sich das Tagebuch sowohl zum Trost- und Therapiemittel für Annes alltägliche Frusten und wurde zu einem der bekanntesten und markantesten Zeitzeugen der Shoah.
„Liebe Kitty“ ist im Wesentlichen dennoch ein authentisches Tagebuch, welches die alltäglichsten Kleinigkeiten durch Annes Augen schildert.
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Allerdings gehören zu solchen Tätigkeiten wie: das Einhalten von vollständiger Stille während der Anwesenheit von Putzfrauen oder Handwerkern, die Gefangenschaft im selben Raum für eine Zeitdauer von Wochen und Monaten, den Umgang mit knapper werdenden Essensrationen u. v. m.
Es ist einerseits erstaunlich zu entdecken, wie viele Freiheiten die Familie in ihrer quasi Gefangenschaft trotzdem nutzen konnte und wie zahlreiche Unterstützer:innen für das leibliche und geistige Wohl der Versteckten sorgten: Lektüren, Weihnachtsgeschenke, Süßigkeiten, Sprachkurse – zu all dem wussten die Bewohner:innen der Prinsengracht sich Zugriff zu verschaffen.
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Andererseits ist es geradezu makaber, über die alltäglichen Hoffnungen, Beschwerden und den Liebeskummer einer jungen Frau zu lesen, deren Schicksal der Welt bereits bekannt ist.
Es ist eine bittersüße Realisierung zu erkennen, dass Anne Frank bis zur Verhaftung ein weitestgehend als normal zu bezeichnendes Leben geführt hat – da bereits bewusst ist, dass sie und ihre Familie nach 1944 nach und nach den Nazis und den KZs zum Opfer fielen.
„Wer Mut und Zuversicht hat, wird nie im Elend untergehen.“(175)
Dass Anne allerdings gerade dieses Zitat gegen Ende der Einträge verfasst hat, zeugt von wahrer Kraft und Stärke im Angesicht größter Herausforderungen und fasst somit die Kernbotschaft des Romanentwurfs zusammen.
So herkömmlich Anne Frank auch in vielerlei Hinsicht gewesen sein mag, so ist sie im Gedächtnis ihrer Leser:innen zweifelsohne als außergewöhnliche Person verblieben.
Nach dem Tagebuch. Das Schicksal von Anne Frank
und der anderen Untergetauchten aus dem Hinterhaus

„Nach dem Tagebuch“ behandelt, wie der Titel bereits verspricht, diejenigen Jahre, die auf Anne Franks Tagebuch (und somit auch direkt auf den oben behandelten Romanentwurf „Liebe Kitty“) folgen.
Das umfangreiche Sachbuch behandelt die Schicksale der Familienmitglieder Frank, die Familie van Pels sowie Fritz Pfeffer, die 1942–1944 mit Anne Frank im Versteck in der Prinsengracht gelebt haben.
In einer Sammlung von Schilderungen erster und zweiter Hand sind in diesem Band die Lebensgeschichten von Anne, Margot, Edith und Otto Frank gebündelt, von denen nur ein Familienmitglied die Haft in den Konzentrationslagern überlebte.
Es wird Näheres über die Verhaftung der Familie geschildert, die elendigen Umstände in den Konzentrationslagern werden anhand von Notizen und Tagebüchern der respektiven Familienmitglieder und Freunde erörtert.
Leser:innen erfahren genaueres über die Transporte ins Durchgangslager in Westerbork, sowie die Haft, den Alltag und den Überlebenskampf in den KZ Auschwitz und Bergen-Belsen.
Die zwei Bände lesen sich am besten im Tandem, denn obwohl auch die mädchenhafte Leichtigkeit von „Liebe Kitty“ durch den harten Alltag ausgeglichen wird, fügt „Nach dem Tagebuch“ eine erhebliche Menge an Ergänzungen in Form Fotos, Faksimiles, Fakten und Daten, sowie hautnahen Erfahrungen hinzu.
Wo Anne in ihrem Tagebuch und Romanentwurf zum Teil sehr persönliche, emotionsgeladene, subjektive Perspektiven niederschrieb – was aus ihrem Blickwinkel als absolut und vollständig realistisch und nachvollziehbar zu interpretieren ist –, erfahren Interessierte nun objektiv-sachlicheres zu den Beziehungen im Haus und einiges zur Vorgeschichte der einzelnen Bewohner:innen – vor, in und nach der Prinsengracht.
Zudem zitiert das Sachbuch Passagen aus dem Tagebuch und erläutert einiges, welches Anne Frank grundsätzlich gar nicht wissen konnte, als sie ihre Einträge verfasste. Somit bietet „Nach dem Tagebuch“ interessante, chronologisch parallele Ergänzungen zur Tagebuchlektüre – sowohl die Personen als auch die Anne umgebenden Ereignisse betreffend, die sie in ihrem Versteck nicht wahrnehmen konnte.
Schließlich ist „Nach dem Tagebuch“ mit einem beeindruckend umfangreichen Anhang bestückt, aus welchem Interessierte zahlreiche weitere Quellen zum Thema finden können.
So ergänzen sich beide Bücher in einer Kombination aus Berichten, Briefen, Gedanken, Fakten und Emotionen und ergeben ein ergreifendes, persönliches, hochgradig interessantes und komplexes Zeitzeugnis.
Für alle Leser:innen, die sich für europäische Zeitgeschichte, insbesondere den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust und ihren Nachhall, interessieren, sind beide Bänder, gerade im Zusammenspiel, sehr zu empfehlen.
Hier geht’s zur Leseprobe für „Nach dem Tagebuch“. Weitere Infos zu „Liebe Kitty“ findest Du auf der Verlagsseite hier.
Bibliografie:
Titel: Liebe Kitty
Autor:in: Anne Frank
Übs.:in: Waltraud Hüsmert
208 Seiten | 18,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 11.05.2019
Verlag: Secession
ISBN: 978-3-906910-62-8
Titel: Nach dem Tagebuch
Autor:in: Bas von Benda-Beckmann
Übs.:in: Marlene Müller-Haas
471 S. | 160 Abb. | 28,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 18.10.2021
Verlag: Secession
ISBN: 978-3-907336-0-07
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