Der erste Roman der Kopenhagen-Trilogie von Tove Ditlevsen behandelt die frühesten Kindheitserinnerungen der Autorin und dokumentiert ihre Anfänge als Dichterin.
Ungeachtet des knappen Stils und des geringen Umfangs handelt es sich bei „Kindheit“ um eine Erzählung mit solcher emotionalen Intensität, die Bücher von dreifacher Seitenzahl erheblich übertrifft.
Der Roman berichtet über die Schwierigkeiten und Engpässe einer von Armut und Entfremdung geprägten Kindheit.
„Kindheit“ zeigt ein junges Mädchen, in einer dänischen Arbeiterfamilie aufwachsend, deren Wünsche und Träume jedoch über den Existenzrahmen ihres Umfelds hinausragen.
Sie liebt Literatur und schreibt – doch ihre Gedichte würde sie nie teilen, denn schon die eigene Mutter würde nur über das Mädchen lachen und sie verprügeln.
Sie ist schüchtern, kommt in der Schule nicht gut zurecht und bemerkt zeitgleich ein wachsendes Gefühl der Entfremdung von den anderen Mädchen in ihrer Nachbarschaft.
Die Kontraste zwischen ihrem äußerst aktiven Gefühlsleben in der inneren Sphäre und ihrem passiven Verhalten zur Außenwelt zeugen von entweder einer erhöhten Sensibilisierung oder dem Beschluss, sich von anderen Menschen vollständig emotional zu verkapseln, da sie nicht fähig ist, der ständigen häuslichen emotionalen Unterdrückung und körperlichen Gewalt standzuhalten.
Ditlevsen malt ein düsteres, geradezu morbides Portrait von ihrer Kindheit als Gefängnis mit einer beengenden Atmosphäre, die ihre Persönlichkeit zerfrisst und ihre Gefühle ertauben lässt:
„Es quält mich sehr, dass ich mittlerweile gar keine
echten Gefühle mehr zu besitzen scheine, sondern
immer nur so tue, indem ich die Reaktionen
der anderen nachahme.“
Anfangs strebt die junge Protagonistin noch nach der Zuneigung ihrer Mutter:
„Alles, was ich tue, dient dazu, ihr zu gefallen,
sie zum Lächeln zu bringen,
ihren Zorn abzuwenden.
Das ist eine mühsame Arbeit, weil ich gleichzeitig
so viele Dinge vor ihr verbergen muss.“
Doch ab einem gewissen Punkt wird die Welt, die sie umgibt, nur noch als Urheber ihres langsamen Sterbens wahrgenommen, aus der nur die Gedichte sie retten können.
Es wäre ein Requiem, solange man ausschließlich die Außenwelt der Protagonistin und ihre hoffnungslose Lage beachtet. Doch bieten die Gedichte einen willkommenen Kontrast und dienen als tröstender Ausgleich sowohl für sie als auch für den Leser.
So wird der traurige Roman mit Zeilen voller Liebeserklärungen und Sehnsucht bestückt. Das Poesiealbum begleitet als tröstende Gestalt die erdrückende Kindheit und dient als Zufluchtsort. Denn die Gedichte sind schön, einfühlsam, dynamisch, farbenfroh, gefühlvoll – und zeugen von einer emotionalen Reife, die ein so junges Mädchen noch gar nicht besitzen sollte.
Ditlevsens autofiktionale Protagonistin verewigt im Poesiealbum ihre idealisierten Vorstellungen von emotionaler und körperlicher Liebe. Die Gedichte sind bereits auf eine feinfühlige Art erotisch, obgleich das Kind selber mit zarten dreizehn Jahren noch nie solcherlei Erfahrungen gemacht hat. Das aus ihnen rufende Verlangen nach Zuneigung ist ergreifend tief.
Über die inhaltliche Finesse der Lyrikinterpretation gelangt der Leser wieder zurück in die Enttäuschungen des Alltags – und verbleibt voller Hoffnung, dass der zweite Band „Jugend“ darüber berichtet, wie die junge Frau ihre Träume endlich verwirklichen kann. Denn seine Sympathie für die Dichterin hat man als Leser an dieser Stelle bereits in den größtmöglichen Rucksack umgefüllt.
Es war ein außergewöhnlicher Beginn. Ich bin sehr gespannt auf Teil zwei der Trilogie.
Bibliografie
Titel: Kindheit
Autor: Tove Ditlevsen
Seitenzahl: 118
Erscheinungsdatum: 18.01.2021
Verlag: Aufbau Verlag
ISBN: 978-3-351-03868-7
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