Von Leitsternen und perfekten Linsen. Jaan Kross: „Gegenwindschiff“

Der estnische Dichter, Professor und Politiker Jaan Kross (1920–2007) ist einer der bedeutendsten estnischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts und besitzt auch weiterhin eine enorme Relevanz auf der europäischen literarischen Landschaft. Zahlreiche seiner Romane („Der Verrückte des Zaren“, „Professor Martens’ Abreise“, „Wikmans Zöglinge“ u.a.) sind bereits in deutscher Übersetzung erschienen. Kross wurde mehrmals für den Nobelpreis für Literatur vorgeschlagen.

Gilt die Handlungsgestaltung im Roman „Gegenwindschiff“ wahrlich als revolutionär – und ist die Ambivalenz des Protagonisten als faszinierend oder bedenklich zu betrachten?


© Osburg Verlag

Jaan Kross ist mit Abstand einer der meist geliebten und gelesenen Autoren in Estland.

Kross‘ Biografie allein zeugt von bemerkenswerter Stärke und Resilienz: der Autor war mehrmals in Haft (sowohl unter Hitler als auch Stalin), hat Jahre im sibirischen Gulag verbracht und dennoch weder seine literarische noch seine echte Stimme zum Schweigen bringen lassen.

Dass die historischen Romane und Erzählungen eine scharfe Regime- und Systemkritik beinhalten – auch wenn sie augenscheinlich im Mittelalter spielen – und dass es meistens um einen harten Überlebenskampf in Umbruchszeiten geht, mag niemanden überraschen.


Sowohl die Gedichte als auch die Romane setzen sich vorrangig mit der Landesgeschichte auseinander, wobei in Kross‘ Werken über das Inhaltliche hinausblickend je einzigartige Komplexitäten hervorgehoben werden können.

In diesem Rahmen galt auch der Roman „Gegenwindschiff“ („Vastutuulelaev“, 1987) auf der estnischen literarischen Landschaft als Wegbereiter – sowohl hinsichtlich der Gestaltung von Komposition als auch der Figuren.


Der Roman wird vom Autor als „romanisierte Biografie“ verstanden und handelt vom Werdegang des Erfinders Bernhard Schmidt. Die Haupthandlung findet 1926–1935 statt, wobei die Geschichte mit Rückblicken auf Schmidts Jugend und Kindheit auf der nordestnischen Insel Naissaar ausgeschmückt wird.


Von der Flutwelle der Inflation […] aus seinem Kellerloch
in Mittweida herausgespült und hier auf der Insel gelandet, wo ich
in diesem kümmerlichen Schuppen […] etwas erfinden will, worauf
die Doktoren in ihren perfekten Laboren nicht gekommen sind!(146)


Die Karriere und Entwicklung des talentierten Erfinders werden bereits im frühen Alter erheblich erschwert: Schmidt verliert als Jugendlicher während eines Experiments mit Schießpulver seine rechte Hand. Von diesem Verlust lässt er sich allerdings weder prägen noch einschränken und lernt mit der linken Hand zu arbeiten, schreiben und zu leben.

(Um den Grad der persönlichen Ambitionen Schmidts einzustufen: während seines Aufenthalts im Krankenhaus lernt er mit der linken Hand zu schreiben und zu zeichnen und liest wöchentlich einen Band der großen Brockhaus-Enzyklopädie, um sich „das Wichtigste einzuprägen“ – S. 180.)


Treffend beschreibt der Klappentext den Protagonisten ständig schwankend zwischen „Selbstzweifeln und Hochmut“. Schmidt tüftelte während seiner gesamten Jugend weiter an Experimenten und Erfindungen, studierte von 1901 bis 1904 in Deutschland am Technikum Mittweida Elektrotechnik und arbeitete ab 1926 als freier Mitarbeiter in der Sternwarte Hamburg-Bergedorf.


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Obwohl Schmidt ein unvergleichliches Talent zur Handfertigung von Linsen und Spiegeln für astronomische Geräte besitzt und ein völlig neuartiges Spiegelteleskop erfindet, erntet er für seine Arbeit weder Ruhm noch Reichtum – die erwarteten Bestellungen bleiben aufgrund der Unbekanntheit aus, die wissenschaftliche Freiheit wird durch das aufsteigende nationalsozialistische Regime eingeschränkt.

Auch wenn die Nachwelt das Schmidt-Teleskop kennt und benutzt, kam der Bau dieses erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges zustande. Schmidt starb im Jahr 1935.


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Die Biografie in „Gegenwindschiff“ wird stufenweise untersucht: ein Gesamtbild von Schmidts Person und Leben entsteht auf eine sowohl erzählerisch als auch kompositorisch ungewöhnliche, doch faszinierende Art und Weise.

In einer Mischung aus Kapiteln in der Ich-Perspektive mit Schmidts eigener (wenngleich romanisierter) Stimme und Gesprächen mit denjenigen Figuren, denen er begegnet ist, entwirft Kross das Portrait eines genialen, doch überaus schwierigen Mannes.


Der Erfinder ist von einer Dualität geprägt, die ihn an beiden Enden ausbrennen lässt: tagelang arbeitet er in der Werkstatt, um sich dann im Suff zu verlieren und den Zyklus neu zu starten. Privates wird nur sehr begrenzt zugelassen: Schmidt lebt ganz und gar für sein Handwerk.

Die politische Situation in Deutschland setzt ihm dennoch immer mehr zu, obgleich er versucht, sich von dieser nicht berühren zu lassen:


Denn wenn man die Politik zu nahe an sich heranlässt,
müsste man doch […] alle Linsen und Teleskope
stehen und liegen lassen und auf die Straße rennen
und zu schreien anfangen.“(260)


Kross zeichnet nicht nur ein höchst faszinierendes psychologisches Portrait der Figur Schmidts, sondern skizziert ein treffendes soziohistorisches Bild der Zwischenkriegsjahre von 1926 bis 1935.

Aus psychologischer Sicht ist die enorme Ambivalenz des Protagonisten bemerkenswert: da nicht alle Befragten ihn bewundern und einige beim Schildern der damaligen Umstände vorrangig in eigener Sache handeln, trägt der Autor zahlreiche Perspektiven über die zum Teil widersprüchliche Figur zusammen und lässt schließlich die Leserschaft selbst entscheiden.

Zu Wort kommen akademische Kollegen und Familienmitglieder sowie eine langjährige Geliebte des Erfinders – die sowohl skeptische, bewundernde als auch neutrale – und vollständig divergierende Perspektiven auf die Figur bieten.


Aus zeitgeschichtlicher Sicht wird Schmidt auf eine schockierende – und doch kaum überraschende – Art und Weise ins historische Geschehen eingebunden. Auch er kann Nazideutschland nicht entgehen, obwohl er sich selbst als neutraler Schwebekörper empfindet, dem historische Prozesse nichts anhaben können. Diese Überzeugung ist allerdings fern von der Wahrheit – der Roman und, so Kross, Schmidts Leben nimmt ein entsetzliches und unerwartetes Ende.

Zuletzt müssen noch die liebevollen Beschreibungen der Heimat hervorgehoben werden, die Schmidt stets als Zufluchts- und Schöpfungsort diente.

Auch inmitten von Krieg, Zerstörung und psychologischem Terror durch totalitäre Regimes wird Naissaar immer wieder als Fels in der Brandung hervorgehoben.


Auf Naissaar dagegen toste das Meer
unverändert gegen die Felsen.“(149)


Umso emotional intensiver sind die auf den letzten Inselaufenthalt folgenden familiären und historischen Ereignisse, die auch diese Assoziationen in ein Netz aus blutigen Traumata verweben.

Mehr zu Ausgang und Inhalt des Romans gilt es nun allerdings, in Eigenlektüre in Erfahrung zu bringen – an dieser Stelle verrate ich Weiteres nicht.


Wissenschaftlich interessierte Lesende und Freunde des Meeresrauschens werden am meisten Genuss an dieser Geschichte finden, die die Schöpfungsprozesse von Schmidts Erfindungen zum Teil recht detailliert darstellt. Wem Werke wie „Die Vermessung der Welt“ oder „Die Entdeckung der Langsamkeit“ gut gefielen, sollte dringend zu „Gegenwindschiff“ greifen.

Allerdings ist diese herausragende Lebensgeschichte auch für an Zeitgeschichte und aufwendigen Kompositionen interessierte Leser:innen durchaus zu empfehlen.

Jaan Kross war eine bemerkenswerte Person, die den Nobelpreis für Literatur mehr als verdient hätte. Seine Romane sind gehaltvolle, komplexe, lehrreiche Meisterstücke, die es zu entdecken lohnt.

Hier geht’s zur Leseprobe.

Bibliografie:

Titel: Gegenwindschiff
Autor:in: Jaan Kross
Übs.:in: Cornelius Hasselblatt, Maximilian Murmann

430 Seiten | 24,00 € (D)

Erscheinungsdatum: September 2021
Verlag: Osburg
ISBN: 978-3-95510-254-8

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