Die gefährliche Nostalgie geträumter Kindheiten: Karl Ove Knausgårds ‚Sterben‘ und Thomas Bernhards ‚Auslöschung‘

Die sechsteilige Autobiografie Min Kamp von Karl Ove Knausgård löste nach seiner Ersterscheinung in 2009 einiges an Unruhe in Norwegen aus. Obwohl es Knausgård – zumindest ist dies die Behauptung des Protagonisten – primär darum geht, eine echte und authentische Geschichte zu erzählen, dadurch eine grundsätzliche Wahrheit zu beschreiben und als Ergebnis dieses Prozesses vor allem seine Stimme als Autor zu finden, sind einige persönliche Beleidigungen durch die Offenbarung von bestimmten privaten Gesprächen oder intimen Ereignissen aus den engsten Familien- und Freundeskreisen gewiss zu erwarten.

 

Thomas Bernhard hat als Autor ebenso nie ein Blatt vor den Mund genommen, jedoch ist seine Motivation weder aus Empathie noch aus der Suche nach einer literarischen Identität entstanden. Bernhards Entschluss war es, kritische Perspektiven zu eröffnen, die unmenschlichen Ereignisse der Vergangenheit seines Staates zu entblößen und eine Kulturkritik seiner Gegenwart zu formulieren. Unruhe löste auch diese Veröffentlichung aus, jedoch selbstredend aus anderen, die österreichische Allgemeinheit betreffenden Gründen.

 

Franz-Josef Murau ist der Antiheld in Bernhards letztem Roman. Seine Mission im Herbst seines Lebens ist es, eine Antiautobiografie zu verfassen und mit dieser Niederschrift seine Nazi-Eltern und Werke 09. Auslöschungderen Taten ohne Verzierungen bloßzustellen. Da das Familiengut Wolfsegg eine große Rolle in diesen Verbrechen gespielt hat, ist es Murau ebenso wichtig, sich von dem Gut zu lösen und die gesamte Vergangenheit auszulöschen.

Bernhards Romantitel Die Auslöschung ist daher eindeutig verständlich und indiziert bereits die Motivation seiner Hauptfigur.

 

Obwohl als Hauptereignis beider Romane der Tod des Vaters fest steht, ist Knausgårds Sterben hinsichtlich der Erzählerhaltung das genaue Gegenteil: Karl Ove möchte aus dieser Begebenheit etwas über sich selbst, seinen Vater und die gegenwärtigen sowie vergangenen Familiendynamiken lernen und noch weiter in die Familiengeschichte eindringen, um den Bannkreis von Alkohol, Unterdrückung und Gewalt für zukünftige Generationen wenigstens zum Teil zu brechen. Darin stellt er sich selbst gewissermaßen als neutraler Beobachter dar, obwohl klar ist, dass er als Teil der Familienkonstruktion nicht neutral sein kann. Ebenso ist nicht zu kaschieren, dass er als Ich-Erzähler den Leser gleichwohl auf seine Seite ziehen und Empathieträger werden möchte.

 

Muraus Ziel ist es, seine Vergangenheit zwar analytisch abzuarbeiten, doch bezeichnet er sich selbst als Übertreibungskünstler, was in den ausschweifenden Beschreibungen seiner Kindheit alsbald klar wird. Daher sind zwar die Eltern als furchteinflößende und gewaltsame Instanzen über die Kinder herrschend dargestellt, jedoch schenkt der Leser Knausgård mehr und schneller Glauben und Empathie, da dieser den Verlauf der Ereignisse aus einer menschlicheren und nachvollziehbaren Perspektive schildert.

 

Sterben - Knausgård, Karl Ove

Das Ausmaß an Empathie und Einfühlsamkeit spielt jedoch hinsichtlich der Kernfrage dieses Essays eine mindere Rolle, da beide Protagonisten gleicher Meinung sind, wenn es um Kindheitserinnerungen und damit einhergehende Nostalgie geht: Erst die Distanzierung von Ereignissen ermöglicht es uns, sie wirklich gründlich und ohne Hindernisse zu analysieren und zu bearbeiten.

Es ist kein Zufall, dass der Schreibprozess in beiden Fällen mit dem Tod des Vaters, einem bekannter Topos bereits aus der Antiken Literatur einhergeht. Darüber hinaus ist in diesen Romanen eine weit komplexere psychologische Dynamik der Hauptfiguren und ihrer Familiengeschichte zu betrachten: die Einflüsse des Vaters, die Erkenntnis und Analysearbeit von diesen Einflüssen und zuletzt der Punkt der Überwindung dieser Einflüsse werden anhand von Prozessen der Kreativität getätigt und erreicht. Karl Oves Selbstkritik ist in diesem Gleichnis dennoch meiner Meinung nach das höher stehende definierende Charaktermerkmal.

 

 

Im Falle Muraus handelt es sich um eine vernichtende Gesamtkritik, die jedes Mitglied der Familie in jeglicher Hinsicht als kompromisslos unsympathisch und den Protagonisten als Opfer darstellt. Gleichzeitig wird Murau selbst als intellektuell überragende geistig hervorragende Person beschrieben. Dass er gleichzeitig auch eine mit diesen intellektuellen Gaben einhergehende Gemeinheit zugibt, soll für den Leser als Objektivität reichen. Erneut ist auf den Titel des Romans hinzuweisen – Negativität ist Muraus Objektivität.

 

Im Falle Knausgårds ist von einer existentialistischen Selbstkritik zu reden, denn obwohl die Rollen, Charakteristika und unbekannten Facetten der Familienmitglieder sich nach dem Tod ebenso stark verändern und bewegen, wird eher der Protagonist selbst hinsichtlich seiner Fähigkeiten, inneren Kraft und Wert als Person befragt und bewertet. Wegen dieser scheinbar authentischen Selbstkritik können Karl Oves Torheiten eher vergeben werden als Muraus Entblößungen.

Dass ein Überfülle an negativen Erfahrungen in der Kindheit Traumata, Depressionen, Alkoholismus und andere Tendenzen zur Selbstverletzung auslösen kann, ist in beiden Romanen zu sehen. Der gemeinsame Nenner jedoch sind die wenigen verbleibenden Illusionen einer schönen Kindheit, die in beiden Fällen vorkommen und nach der Konfrontation mit dem toten Erzeuger restlos auseinander fallen.

 

Es ist noch nicht einmal als Fehlverhalten oder Dummheit zu bezeichnen, dass ein jeder sich diese Kindheitserinnerungen erträumt, der mit schönen Orten, einfühlsamen Momenten und glücklichen Familienereignissen keine eigentliche Bekanntschaft gemacht hat. Jedoch wäre es ein einfacheres Leben, wenn man sich die Wahrheit so früh wie möglich vor Augen führt und so bearbeitet, wie sie eben ist.

 

Andererseits wäre ohne die Existenz von menschlichen Schwächen so einiges – wenn nicht das meiste – an hervorragender Literatur nie entstanden. Ich habe die Lektüre beider Autoren genossen.

 

(Fotos 1 2 3)

 

 



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