Worte verbrennen. Celeste Ng: „Unsere verschwundenen Herzen“

Die US-Amerikanische Autorin Celeste Ng (* 1980) erforscht in ihren Romanen sowohl komplexe individuelle Innenwelten („Was ich euch nicht erzählte“) als auch düstere Kehrseiten von Gemeinden, die auf den ersten Blick reich, schön und sorglos erscheinen („Kleine Feuer überall“). Bereits mit ihrem fesselnden Debütroman erntete Ng internationale Anerkennung, die bis dato nicht abebbt.

Welche erschütternden Tiefen der individuellen und kollektiven Psyche erforscht Ng im neuen Roman „Unsre verschwundenen Herzen“?


© dtv

Celeste Ngs neuester Roman „Unsre verschwundenen Herzen“ (Our Missing Hearts, 2022), übersetzt von Brigitte Jakobeit, verwebt dystopische Ideen mit zeitgenössischen Betrachtungen – und erzählt eine packende Geschichte über Mut, Liebe und Hoffnung in einer von Angst durchbohrten Gesellschaft.

Am Beispiel einer düsteren, gespaltenen Welt hebt Ng die Unerlässlichkeit von Nächstenliebe hervor, zeigt die essenzielle Reichhaltigkeit heterogener Gesellschaften auf – und warnt vor den irreversiblen (individuellen und kollektiven) Konsequenzen einer bis zur Apathie betäubten Gesellschaft.

Obwohl die verschwundenen Herzen in Ngs Erzählwelt für die wertvollsten Teile der Familien stehen – sie symbolisieren Kinder, die ihren Nächsten hartherzig entrissen werden – weist der Romantitel ebenso auf eine gefährliche Gefühllosigkeit hin, die eine von Tyrannei beherrschte Gesellschaft in Gänze zerstören kann.


Auf den ersten Blick muss auch der junge Protagonist, der zwölfjährige Bird, der mit seinem Vater in Harvard lebt, diese erbarmungslose Einstellung unter größten Herzschmerzen erdulden – nachdem ihre Mutter die Familie verlassen hat, tut Birds Vater alles, um sich sowohl im Privaten als auch im Öffentlichen von ihr und ihren Ansichten zu entfernen.


Dort hatte sein Vater die Bücher seiner Mutter gestapelt,
dann ein Streichholz an die Ecken gehalten.“(131)


Dass Birds Mutter Margaret asiatischer Herkunft ist, stellt eine ebenso große Gefahr dar, wie die Bedeutung ihrer Gedichte für die Gegenbewegung von PACT (Preserving American Culture and Traditions).


Nach der Verabschiedung des Gesetzes „zur Erhaltung amerikanischer Kultur und Traditionen“ (S. 229), welches in großen Teilen von staatlich gesteuerter Chinafeindlichkeit inspiriert wurde, werden vorrangig asiatisch aussehende Menschen diskriminiert, ihre Kinder vom Staat weggenommen und zur Adoption freigegeben.

Auch Bird ist trotz seines weißen Vaters einem ständigen Terror von innen ausgesetzt – der durch einen fabrizierten Terror von außen ins Leben gerufen wurde und nun Überlebensgröße erreicht hat.


Als Bird einen sibyllinischen Brief von Margaret erhält, beginnt für ihn die wichtigste Reise seines Lebens: auf eigenem Fuß muss der kleine Junge unglaublich viele Wege finden und bestreiten: von Harvard nach New York, zur Wahrheit über seine Identität, zu den eigentlichen Beweggründen seiner Mutter – und zu seinem eigenen verschwundenen Herzen.


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Ng verrät im Vorwort zum Roman, dass die ursprünglich als traditioneller Mutter-Sohn-Roman geplante Geschichte sich aufgrund aktueller Auseinandersetzungen veränderte: es war ihr wichtig, Brennpunkte aufzuzeigen und zu durchleuchten – wie die Identitätsfindung einer Person, die zwischen zwei Kulturen aufwächst, oder die Verantwortung von Eltern bei der Weitergabe von Vermächtnissen und geistigem Erbgut.

Ebenso wollte Ng über die Macht von Kunst schreiben – und die einzigartige Fähigkeit von Kunst und Literatur, Revolutionen zu inspirieren, Kraft zu verleihen, persönliche und gesellschaftliche Veränderung zu schaffen.


Wie soll man das jemandem erklären, der es nicht erlebt hat?
Wie soll man Angst jemandem erklären, der noch nie Angst hatte?(209)


So gerät Margaret Miu als Dichterin und als Mutter – anfangs unwissend, im späteren Verlauf der Erzählung fest entschlossen – ins Herz der Anti-PACT-Bewegung, als eine Zeile ihres Gedichts zum Motto der Dissidenten wird.

Der symbolische geteilte Granatapfel auf dem Deckel ihres entsprechenden Gedichtbandes zeigt die „Bruchstücke seines verschwundenen Herzens“ (S. 237), die für die zerstörten Familienstrukturen, die fehlenden Herzstücke der Mütter und Väter – und für die gespaltene Gemeinde, Gesellschaft und Menschheit steht.


Mit demselben erzählerischen Geschick wie in ihren zwei Vorgängerromanen balanciert Ng zwischen Handlung und Introspektive, stattet ihre emotionalen Räume mit einer tiefen Trauer, einer Sehnsucht nach dem verlorenen Glück und einer Angst um die Liebsten aus – während sie zeitgleich eine enorme Spannung um die abenteuerliche Suche nach Birds Mutter aufbaut.

Margarets Position und Bedeutung für den Widerstand; die Opfer, die sie dafür bringen muss – und möchte – und ihre enorme innere Kraft, an einem Punkt in der Erzählung im übertragenen Sinne die gesamte Stadt auf ihren Schultern zu tragen und ihnen ins Ohr zu flüstern, werden ihren sehr nachvollziehbaren menschlichen Schwächen und der alles übertönenden Liebe für Bird gegenübergestellt.


Die Resilienz des Einzelnen wird durch eine massive Untergrundbewegung gestärkt: ein mächtiges Bibliothekarinnen-Netzwerk unterstützt sowohl Bird als auch Margaret auf der respektiven Suche nach anderen symbolischen Granatapfelkernen.

Ng gestaltet das argumentativ extrem häufig verwendete Motiv der Bibliothek als Zufluchtsort als authentisches Teilchen ihrer Erzählwelt: sie verleiht ihr mit Kinderaugen magische Fähigkeiten (vgl. S. 312) und fügt die organisatorischen und logischen Aspekte des Geheimnetzwerks gekonnt ineinander.


Ein kleines Mädchen, verloren und allein, beschützt
von einem Löwen, dem König des Landes.“(312)


So gelangen Kinder und Eltern schließlich trotz erbarmungsloser Zwangstrennung zueinander: über die Magie von Kindheitsmärchen, über Erinnerungen an erzählte Gute-Nacht-Geschichten; über gemeinsam verbrachte Spaziergänze in den Straßen der Heimatstadt; über Abende und Nächte in der Ängste stillenden Umarmung des anderen.

Auch wenn sie einander nie wieder körperlich berühren können, tun es ihre Herzen.


Ist Hoffnung für diese Gesellschaft konzeptuell reell? Ist sie greifbar?

Oder gebührt den Bewohner*innen von Ngs dystopischer Realität nurmehr eine verlorene Zukunft – ein geräuschloser Moment; ein Augenblick des Gedenkens an die lange vergangene letzte Umarmung, eng umschlungen mit der fehlenden Hälfte des eigenen Herzens?

Dies empfehle ich Dir wärmstens, bei der Lektüre eigenhändig in Erfahrung zu bringen.


Die Angst und das Entsetzen, welche Ngs Erzählwelt beherrschen – in Kombination mit dem Atwood’schen Boden reeller zeitgenössischer und historischer Begebenheiten – lassen das Makabre und das Beunruhigende an diesem Roman erneut und vermehrt in die Höhe schießen und an Intensität gewinnen.

Wie ein Liebeskind von Margaret Atwood und Anthony Doerr liest sich dieser Roman – allerdings nur im Nebengeschmack, im Wesentlichen stets unverwechselbar mit authentisch Ng’scher Erzählerinnenstimme ausgestattet.


Im Anhang erwartet Lesende ein gehaltvolles Nachwort mit bibliographischen und historischen Verweisen auf die Inspiration zu dieser anfänglich weniger dystopisch geplanten, in finaler Form extrem düsteren Erzählwelt.

Vor allem Laura Briggs‘ Monografie Taking Children: A History of American Terror und viele andere Hinweise vertiefen den faktischen Entstehungsboden dieses schon an sich tiefschneidenden Buchs ins Unermessliche.


Celeste Ngs „Unsre verschwundenen Herzen“ ist meinerseits – vor allem für Fans von emotional intensiven Romanen, gefühlvollen Familiengeschichten, mit dystopischer Schleife verzierten düsteren Gesellschaftskritiken – eine absolute Leseempfehlung mit Nachdruck.

Hier geht’s zur Leseprobe.

Bibliografie:

Titel: Unsre verschwundenen Herzen
Autor*in: Celeste Ng
Übs.*in: Brigitte Jakobeit

400 Seiten | 25,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 05.10.2022
Verlag: dtv
ISBN: 978-3-423-29035-7

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