Literarische Abenteuer. Carlos Ruiz Zafón: „Der Friedhof der vergessenen Bücher“

© Olya Kobruseva

Carlos Ruiz Zafóns (1964–2020) Romane werden weltweit gelesen und geliebt. Die Mischung aus gotischer Romantik und magischem Realismus in seinen Texten ist einzigartig und unverwechselbar. In Zafóns Barcelona treffen sich Márquez, Borges und Pessoa mit den Brüdern Grimm in der nebligen Dämmerung der Ramblas.

„Der Friedhof der vergessenen Bücher“ ist mit einer konzentrierten Essenz Zafóns gleichzusetzen. Das Bändchen eignet sich daher hervorragend für diejenigen Leser, die mit dem einzigartigen Talent des spanischen Autors noch nicht bekannt sind. Für den erfahrenen Fan bieten sich überdies sieben bislang unveröffentlichte Erzählungen zum Lesegenuss an.


© S. Fischer

Sowohl die eher märchenhaften Kurzgeschichten als auch die realistischer angehauchten Erzählungen besitzen einen starken Bann, der beim Lesen nicht mehr loslässt.

Seien es düstere, geisterhafte oder gefährliche Figuren, die in fantastischen, lebensgefährlichen Umständen aufeinander treffen und ihre Gegner zerstören möchten – oder sympathische junge Helden, die ein offenes Herz besitzen und sich für das Glück andere aufopfern: Zafóns Geschichten erreichen in puncto Liebe, Verlangen, Tod, Verdammnis und Rache ein Niveau ohnegleichen.

Egal, ob ein dreiseitiges Fragment über das Ende der Welt oder eine kindliche Liebesgeschichte über die Hingabe zur Erzählkunst: Zafóns Figuren faszinieren und ziehen direkt mit, man möchte ihnen folgen – obgleich der Weg nun in ihren Tod oder in den Tod ihrer Gegner führt.

Denn in dieser Erzählwelt warten auf jeder neuen Seite neue Kehrtwendungen und dunkle Gassen voller Überraschungen.


Die Chroniken berichten, bei seiner Ankunft in Barcelona an Bord eines aus dem Osten kommenden Schiffs habe der Labyrinthebauer bereits den Keim des Fluches mitgebracht,
der den Himmel der Stadt mit Feuer und Blut überziehen sollte.“1


Der märchenhafte Grundton seiner Handlungen weitet sich gleichermaßen in sämtliche Richtungen einer magischen Realität aus: reine Seelen, unsterbliche Liebe, teuflische Dämonen, Jahrhunderte überdauernde Schicksale und unbeschreibliches Leid stoßen seinen Figuren zu. Ihr Glück kann ebenso maßlos wie ihr Unglück sein – Zafón zieht auf wenigen Seiten alle Register, sodass die Spannung durchgehend hoch bleibt.


Jede Nacht zeichnete sich seine Silhouette
hinter den goldenen Lamellen der Dachfenster ab,
von wo aus er wie ein dunkler Wächter
die Stadt zu seinen Füßen betrachtete.“1


Nicht nur die Handlungen, sondern der Stil des Autors ist überaus genussvoll: Zafón bindet Elemente und Gegenstände, Stoffe und Gebäude an Emotionen, sodass die Erzählwelt zeitgleich dunkel-düster, des Öfteren geradezu morbide – und doch höchstgradig farbenvoll und lebendig ausfällt. In den Texten findet ein derart feinfühliges Spiel an Farben, Geräuschen, dynamischen Mehrklängen und starken Kontrasten statt, welches nur jemand mit einer hervorragenden Fantasie und Erzählkraft so gekonnt fortführen kann.


Ich lernte sie an einem Juliabend kennen, an dem der Himmel
vor Dunst und Verzweiflung brannte.“1


„Der Friedhof der vergessenen Bücher“ ist ein hochwertiges Sammelstück, reich an Fragmenten, Figuren und Erinnerungen – und zeitgleich ein gelungener Abschluss im Œuvre eines Meisters.

Meinerseits gebe ich eine uneingeschränkte Leseempfehlung sowohl für Langzeitfans als auch für diejenigen, sie sich zum ersten Mal mit Carlos Ruiz Zafón beschäftigen.


Und nun bin ich gespannt auf Deine Ergänzungen zum Autor. Welchen Roman von Zafón muss man unbedingt gelesen haben? Möchtest Du ein Lieblingszitat mit mir teilen? Welche Autoren würden Zafón-Fans noch erfreuen?

Auf Deine Resonanz in den Kommentaren freue ich mich sehr!



Hier geht’s zur Leseprobe.

1 – Zitate von S. 67, 139 und 179.

Bibliografie:

Titel: Der Friedhof der vergessenen Bücher
Autor: Carlos Ruiz Zafón
Seitenzahl: 224
Erscheinungsdatum: 26.5.2021
Verlag: S. Fischer
ISBN: 978-3-10-397093-7

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Mehr literarische Abenteuer:

Patricia Highsmith: „Ladies. Frühe Stories“
Michail Bulgakow: „Teufeliaden“


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  1. Unbedingt gelesen haben muss man natürlich „Der Schatten des Windes“. Die anderen Romane (soweit ich sie kenne — einige warten noch auf mich) haben mir zwar auch allesamt gefallen, aber dieses eine Buch ist einfach unerreicht.

    Gefällt 1 Person

  2. Danke für die Würdigung dieses unterhaltsam und leicht zu lesenden Buches, das uns sehr gefallen hat.
    Alles Gute
    The Fab Four of Cley
    🙂 🙂 🙂 🙂

    Gefällt 1 Person

  3. Deiner Leseempfehlung stimme ich voll und ganz zu. Ich war fasziniert von „Der Schatten des Windes“. Große Teile des Inhalts haben sich seit dem Lesen vor mehr als 15 Jahren in meinem Hirn festgesetzt.

    Gefällt 1 Person

    • Dankeschön! Ich bin fasziniert davon, wie dieser Roman – und grundsätzlich auch Zafón selbst an mir vorbeigehen konnte, obwohl ich spanische, portugiesische und lateinamerikanische Literatur in erheblichen Maßen konsumiere. Besser zu spät denn nie, kann man allerdings nur sagen 🙂

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