Ein Erbe ungesagter Worte. Donatella Di Pietrantonio: „Borgo Sud“

Italienische Autorin Donatella Di Pietrantonio kehrt mit „Borgo Sud“ zurück in die Abruzzen und nimmt die bereits aus „Arminuta“ bekannte Familiengeschichte nun aus diversen Perspektiven und Retrospektiven erneut auf.

Auch ohne den Vorgänger zu kennen kann der neue Roman gelesen und genossen werden. Doch nicht ohne Mühen und Arbeit.


© Kunstmann Verlag

„Borgo Sud“ webt die Familiengeschichte von „Arminuta“ weiter, berichtet über die Dynamik der Töchter mit zwei Müttern, die keine sind, und daher keine Liebe kennen.

Die Erzählung folgt der Protagonistin nun in ihre Jugendzeit, ihr Studium und ihr Erwachsenenleben.

Das schöne Büchlein überzeugt auf den ersten Blick direkt mit stilistischer Kraft und unerwarteten Kehrtwendungen, die immer wieder fesseln.

Sowohl die schwierige Beziehung zwischen Schwestern, die einander nicht zu lieben wissen; den gewalttätigen Männern, die nur das trostlose Leben im Fischerdorf kennen und auf festem Land unfähig zu einer friedvollen Existenz sind; als auch die konfliktreiche Familienhistorie bieten inhaltlich interessante erzählerische Pfade zum Entdecken.

Ja: die Kindheitsgeschichte der Arminuta wird hier mit einer gewissen Kontinuität weiter erzählt. Wer ihren Beginn kennt, wird sicherlich mehr an Assoziationen finden als jemand, der „Borgo Sud“ als erstes in die Hand nimmt.

Doch fügen die Fragmente sich am Ende nicht in ausreichendem Maße zusammen – dies wird bedingt durch die Ausführung der Geschichte an sich, nicht ihrer Zugehörigkeit oder Abhängigkeit vom Vorgänger.

Zu Beginn des Romans wird man unvermittelt in den Sog einer scheinbar bereits länger laufenden Geschichte gezogen, als die Protagonistin in ihren Kindheitsort Pescara zurückkehren muss:


Eine ganze Vergangenheit rief mich zurück,
wie eine gespannte Feder, die sich plötzlich lockert
und in die Ausgangsstellung zurückkehrt.“(20)


Mit einer Vorahnung über ihr späteres Leben steigt die Protagonistin in die Retrospektive ein, als sie über die Hochzeit mit dem Mann berichtet, der für sie trotz zusammen gelebter Jahre ein Mysterium bleibt.

Denn bereits damals soll es ein Zeichen für das kommende Unglück gegeben haben.

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Der Bruch und die Zerstörung ihrer Ehe geschehen ebenso schnell und plötzlich wie ihre Schließung. Obwohl der Hintergrund des Ehemannes neben der Schwesterndynamik wohl die interessanteste Problematik im Roman darstellen könnte, bleibt er sowohl für die Protagonistin als auch die Leserschaft unergründlich:


Nie konnte ich ihn ganz erreichen
in seiner Abgetrenntheit, seiner Wahrheit.
Ich fürchtete mich davor, hinter seine Fassade zu blicken,
die glatt war wie das Wasser jenseits der Dünen von Cerrano.“(92)


Nicht nur zwischen Eheleuten, sondern auch zwischen Eltern und Geschwistern bleibt das meiste ungesagt. So bewegt die Protagonistin sich zwischen Erinnerung und Realität, genießt ihre Tätigkeit als Literaturprofessorin an einer Universität in Grenoble – und wird dennoch plötzlich von ihrer Vergangenheit überwältigt, als sie wegen eines Unglücks zurück in die Heimat muss.


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Bereits die Komposition bewegt sich raffiniert zwischen Orten, Zeiten, Personen – zu Beginn fragte ich mich, ob unterschiedliche Protagonist:innen ihre Perspektiven darbieten.

Diese gesamte Geschichte bleibt allerdings schließlich hängen – im Ungesagten, Ungewissen, im Fehlenden und Angedeuteten.

Elemente und Episoden aus dem Leben (und aus den Toden) einer dysfunktionalen Familiendynamik ohne Liebe, Vertrauen oder Freundschaft werden im Roman preisgegeben:


Mit meiner Schwester teilte ich ein Erbe ungesagter Worte,
unterlassener Gesten, verweigerter Fürsorge.
Und seltener, unvermittelter Aufmerksamkeiten.“(137)


Aus der Geschichte wird jedoch bis zum Ende nicht klar, wer als die eigentliche Protagonistin, wer als Antagonistin positioniert werden solle. Eher ist „Borgo Sud“, wie im Titel angedeutet, ein weiteres Portrait der ökonomisch und seelisch ausgetrockneten, bedauernswerten Landschaft eines italienischen Fischerdorfes, aus der die Familie der Protagonistin stammt und ihr Schicksal mit zahlreichen anderen Familien teilt.

Der Hintergrund der Familiensituation, die echten Sachverhalte dahinter und die sozialkritischen Aspekte sind im Grunde genommen faszinierend. Doch werden die Fragmente nicht zueinander gekettet – ein Gefühl des verloren seins bleibt im Kern der Erzählung erhalten.


Figurendynamiken und Geschehnisse werden allerdings schon aufgrund stilistischer, nicht nur inhaltlicher Entscheidungen, wirklich präsentiert oder geklärt. Die Wahrheit sitzt zwischen den Zeilen und hinter den Worten, die in einem knapp-kargen Ton zwar Begebenheiten, Gefühle und Wertungen kommunizieren – doch schließlich nur eine halbe Geschichte erzählen.

Nicht nur Zimmern und Straßen, auch Bergen, Flüssen, Häusern und Naturgewalten wohnt hier eine tiefe Trauer inne – denn die Menschen im Hafenviertel Borgo Sud wurden nicht nur eines vollwertigen Lebens, sondern der Hoffnung darauf beraubt.

Dass Gewalt, Eifersucht und Skrupellosigkeit ihren Umgang beeinflussen, soll niemanden überraschen.


Dieser Roman ist dennoch nur ein unvollendetes Portrait; ein Landschaftsbild mit Lücke; eine Sammlung an Personen, deren Gefühle unklar bleiben; mit Ereignissen, die zwar Trauer und Elend verursachten – über die aber ebenso niemand wirklich reden möchte.

Stilistisch hält „Borgo Sud“, was es verspricht: von Beginn bis Ende handelt eine bittere Geschichte in kühlen Tönen über die grausamen, selbstsüchtigen Formen von Liebe und die fatalen Konsequenzen der Zugehörigkeit zu einer gewaltsamen Familie.

Doch bleibt der Roman für mich lediglich eine schöne Eintagsfliege, da er sich vehement weigert, seinen Kern zu offenbaren.

Auch der schöne Stil kann diese Leere nicht vollständig füllen.

Auf Deine Gedanken zum Thema und zur Autorin in den Kommentaren freue ich mich sehr.


Hier geht’s zur Leseprobe.

Bibliografie:

Titel: Borgo Sud
Autor:in: Donatella Di Pietrantonio
Übs.:in: Maja Pflug
Seitenzahl: 224
Erscheinungsdatum: 01.09.2021
Verlag: Kunstmann
ISBN: ISBN: 978-3-95614-454-7

Beitragsbild © Jeffrey Czum / pexels.com.


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Rezension zum Vorgängerroman „Arminuta“ bei leseschatz
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