Zitateverzehr, 1: Hermann Hesse

Herzlich willkommen zu einer neuen Reflexionsreihe über Romane, Autoren, Worte und Wörter. In den als ‚Zitateverzehr‘ getitelten Beiträgen beschäftige ich mich mit interessanten Zitaten aus gelesenen Büchern.

Als ersten Literaten im Zitateverzehr möchte ich auf einen meiner absoluten Lieblingsautoren eingehen: Hermann Hesse.

 

Ebenso gehört Hesse noch zu der Generation der klassischen deutschen Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dessen Briefe und Tagebücher im Gesamtwerk publiziert worden sind. Seine Romane, Betrachtungen und Erzählungen sind in mehreren Sammelbänden veröffentlicht: es stehen das erzählerische Werk in 10 Bänden, die Gesamtausgabe in 20 Bänden, gesammelte Werke in 12 Bänden und weitere Werkausgaben zur Verfügung, von den einzelnen Romanen in zahlreichen Editionen ganz abgesehen.

Dass also grundsätzlich irgendwann einmal Hesse-Zitate in einem deutschen Haushalt gelesen, verzehrt und  besprochen wurden, ist eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich. Aufgrund und nach der Veröffentlichung von Steppenwolf in den Vereinigten Staaten nahm Hesses Beliebtheit in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts auf dem internationalen Literaturmarkt zu und hat bis dato nicht nachgelassen.

 

Obwohl man Hermann Hesse noch zu den altmodischen an die deutsche Romantik geneigten Autoren der Jahrhundertwende (19./20.) zählen kann und sein gefühlsam-sensibler Erzählstil für die Generation anwachsender LeserInnen zum Teil gar seltsam erscheinen könnte, behandelt der Autor ebenso viele Kernthemen einer progressiven und weltoffenen Art, die noch im laufenden Jahr Aktualität besitzen. Diese möchte ich anhand der folgenden Zitate benennen und untersuchen.

Auch eure Lieblingszitate von Hesse würde ich gerne zu meiner Sammlung hinzufügen, hinterlasst sie also gerne in den Kommentaren 🙂

 

Der Wert von Individualität und Selbstwerdung

Hesse war Schriftsteller und Künstler, und sicherlich ein Sonderling im liebsten Sinne des Wortes. Dank seines weiten und festen Freundeskreises konnte er diese Existenz ohne größere Einschränkungen wahrnehmen. Darüber hinaus betonte Hesse in seinen Romanen jedoch die Wichtigkeit des Selbstwerdens, Selbstseins und Selbstbleibens. Am besten beschreibt dies der Brahmanensohn Siddhartha:

 

„Wenn man einen Stein ins Wasser wirft, so eilt er auf dem schnellsten Weg zum Grunde des Wassers. So ist es, wenn Siddhartha ein Ziel, einen Vorsatz hat. Siddhartha tut nichts, er wartet, er denkt, er fastet, aber er geht durch die Dinge der Welt hindurch wie der Stein durchs Wasser, ohne etwas zu tun, ohne sich zu rühren: er wird gezogen, er läßt sich fallen. Sein Ziel zieht ihn an sich, denn er läßt nichts in seine Seele ein, was dem Ziel widerstreben könnte. Das ist es, was Siddhartha bei den Samanas gelernt hat. Es ist das, was die Toren Zauber nennen und wovon sie meinen, es werde durch die Dämonen bewirkt. Nichts wird von den Dämonen bewirkt, es gibt keine Dämonen. Jeder kann zaubern, jeder kann seine Ziele erreichen, wenn er denken kann, wenn er fasten kann.“

 

Warten, denken und fasten sind Siddharthas Fähigkeiten, die er als Grundprinzipien zum erreichen eines jeden Erfolgs versteht. Das Selbstwerden ist eines dieser Ziele, und nachdem der Brahmanensohn die drei Fähigkeiten besitzt, ermöglicht dies ihm, sein Umfeld besser zu deuten und zu verstehen: der Fluss, an dem er oft sitzt, die Stadt, in der er lebt und die Frau, die er liebt, sind Lektionen auf dem Weg zu der Erkenntnis seines Selbst. Der Fokus jedoch muss in seinem eigenen Innern liegen, damit Siddhartha sein Ziel erreichen kann. Ein Stein wird durch Schwerkraft gelenkt; eine Person jedoch muss seine eigene seelische ‚Schwerkraft‘ erzeugen, um an sein Ziel zu gelangen.

Währenddessen wird man von dem „was die Toren Zauber nennen“ abgelenkt: äußere Einflüsse, innere Zweifel und allerlei Versuchungen. Es liegt am Individuum, diesen Verlockungen zu widerstehen und warten, denken und fasten als Methoden der Refokussierung anzuwenden.

 

Unabhängig des Hindernisses können Siddharthas Prinzipien sehr gut als Alltagshilfe interpretiert werden: warten, denken und fasten heißt nichts anderes als die Fassung zu bewahren, sich die eigenen Schritte vorher gut zu überlegen und keinerlei Überdruss zu unterliegen, da dieser den weiteren Weg erschwert.

Obgleich diese Empfehlung zum Rückzug und Einhalt nun konkret dem kapitalistischen Konsumerismus, der hedonistischen Beziehung mit Rauschmitteln oder dem politischen oder religiösen Fanatismus gilt: ein wenig Fasten sei jedem auf seinem Weg geraten, denn es tut gut – gleicherweise dem Asketen, dem Studenten, dem Lehrer, dem Fischer und dem Greis.

 

Der Wert eigener Regel- und Wertesystemen

Die Unterdrückung der Individualität von Institutionen ist ein ebenso prominentes Thema in Hesses Werk. Bereits im ersten Roman, Unterm Rad, wurde diese Problematik angesprochen:

Der Mensch, wie ihn die Natur erschafft, ist etwas Unberechenbares, Undurchsichtiges, Feindliches. Er ist ein von unbekanntem Berge hereinbrechender Strom und ist ein Urwald ohne Weg und Ordnung. Und wie ein Urwald gelichtet und gereinigt und gewaltsam eingeschränkt werden muß, so muß die Schule den natürlichen Menschen zerbrechen, besiegen und gewaltsam einschränken.

 

Unterm Rad: Roman von Hermann Hesse - Suhrkamp Insel Bücher BuchdetailDer Protagonist des ersten Romans scheitert dort, wo Josef Knecht im Glasperlenspiel schließlich den höchsten Erfolg erzielt: Meister seines Handwerks zu werden und die eigene Existenz zu transzendieren. Der junge Hans Giebenrath ist zwar begabt und motiviert, dennoch wird sein Talent durch schulische Regeln, Strukturen und Konventionen unterdrückt, und die Freundschaft mit einem ungewöhnlichen Mitschüler bewirkt eine Identitätskrise, die zum Scheitern führt.

Die Aussage, dass der Mensch ein „Urwald ohne Weg und Ordnung“ ist, der „gewaltsam eingeschränkt werden“ muss, kann zweierlei gedeutet werden.

Einerseits sollte die ‚wilde‘ Seite einer Persönlichkeit sicherlich Ausdruck finden und nicht unterdrückt werden, andererseits müssen in einer Gesellschaft soziale Normen eingehalten werden, um eine gemeinsame Existenz zu sichern. Das Ausmaß dieser Normen ist in stätigem Wandel und sorgt weiterhin für interkulturelle Diskussionen nicht nur zwischen Individuen oder Lebensbereichen, sondern aufgrund zunehmender Globalisierung von Diskursen auch Ländern und Gesellschaften.

 

Die Problematik der Nivellierung von exzentrischen Individuen und konventionellen Milieus hängt in diesem Kontext damit zusammen, dass die Aus-der-Reihe-Tänzer dämonisiert und ihre Talente nicht in die angemessenen Bahnen der produktiven Kreativität gelenkt werden.

Wo ein unabhängig fungierender Mentor vorhanden ist, blühen solche Persönlichkeiten meistens auf, da ihre Talente geschätzt und gepflegt werden. Von einer Klosterschule als einer offensichtlich von einer alteingesessenen, von Traditionen geprägten Ideologie ist demnach nichts dergleichen zu erwarten.

Hierin findet auch der Konflikt zwischen den zwei Seiten einer Persönlichkeit seinen Ursprung, die als Geist und Natur bezeichnet werden können, und der eine tragende Rolle im Gesamtwerk spielt. Zu dem Thema wäre der Roman „Narziß und Goldmund“ ein wundervolles Beispiel.

 

Die Wichtigkeit von kultureller Offenheit

Ebenso sinnierte Hesse über die Angst vor dem Unbekannten, der fehlenden Selbstliebe, und wie diese Gegenüberstellung sich schleunig in Hass verwandeln kann, in Demian:

Wenn wir einen Menschen hassen, so hassen wir in seinem Bilde etwas, was in uns selber sitzt. Was nicht in uns selber ist, das regt uns nicht auf.

 

Demian - Hermann Hesse ” | Demian hermann hesse, Demian libro ...Dieses kurze Zitat beinhaltet vielerlei Wahrheiten über die Natur eines Menschen. Auch aus der Literaturpsychologie ist bekannt, dass Szenarien mit fehlenden Informationen vom Leser anhand eigener Erfahrungen ausgefüllt werden. Sollten gar keine Erfahrungen vorhanden sein, spielen meistens Unwissenheit und Unsicherheit ein gemeinsames Spiel und schaffen Befremdung. Diese muss jedoch bewusst überwunden werden, um die Assoziationen mit denselben Szenarien wieder positiv zu beladen.

Für konventionell fundierte Gesellschaften sind individuelle Verhaltensweisen ebenso mit einer solchen Unsicherheit verbunden, wenn Institutionen wie Familie, Schule, Amt und Behörde Personen von selbstständigen Handlungsweisen und progressiven Denkweisen abgehalten und lediglich in traditionelle Bahnen geleitet haben. Kommt nun ein anders denkendes Individuum ins Blickfeld, wird dieses aufgrund der eigenen Grenzen, der Unterdrückung der eigenen potentiellen Wünsche, und der dadurch vorhandenen Unkenntnis zu den positiven Resultaten des Individualismus abwertend und gegebenenfalls sogar feindlich behandelt.

In einer idealen Gesellschaft akzeptieren Individuen einander, da durch neue Medien die Normalisierung von allerlei Formen des Denkens, Handelns und Lebens gezeigt, geteilt und gelehrt werden. Dennoch verbreitet sich derselbe Hass zwischen ignoranten Individuen, den bereits Hesse vor über hundert Jahren zu überwinden versuchte.

 

Individualismus, geistiger Liberalismus, Gleichgewicht zwischen sinnlichen und intellektuellen Elementen innerhalb einer Person und die Offenheit für neue Erfahrungen und Ideen sind wichtige Lektionen, die aus den Zitaten Hermann Hesses für unsere und die nächste Generation weiter getragen werden sollten. Vielleicht helfen euch diese fließend und gefühlvoll formulierten Zitate, seine Nachricht weiterzuverbreiten.

 

Was ist euer Lieblingszitat von Hesse und über welchen Autor soll ich als nächstes im Zitateverzehr berichten? Schreibt mir gerne einen Kommentar dazu 🙂

 

(Fotos: 1 2 3)



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