
Ghanaisch-amerikanische Autorin Yaa Gyasi hat mit in ihrem Debüt „Heimkehren“ einstimmig begeistert und überzeugt. Während es im Erstling um die kulturhistorischen und soziopolitischen Spuren des transatlantischen Sklavenhandels ging, setzt Gyasi sich im neuen Roman mit universalhumanen Themenkomplexen auseinander: Sucht, Verlangen, Zwang, Trauer, Hoffnung und Glauben werden aus einer kontemporären schwarzen Perspektive analysiert.
Auf Figuren- und Handlungsebene kann Gyasis neuer Roman zweifelsohne mithalten. Ist der kompositorische Griff jedoch zu locker für eine tiefere Bindung?

„Ein erhabenes Königreich“ (Transcendent Kingdom, 2020) erforscht die Entwicklung einer jungen schwarzen Wissenschaftlerin – vor, während und nach dem Tod ihres Bruders.
Im Vordergrund der psychologischen Obduktion stehen Giftys Beziehungen zu ihrer Mutter, ihrem Glauben und sich selbst.
Und… zu ihren Mäusen?
Der Roman beschäftigt sich auf der Familienebene mit der Thematik des menschlichen Suchtverhaltens und der Heroinsucht von Giftys Bruder, die aufgrund einer Sportverletzung und den verschriebenen Opioiden eintritt und fatal endet.
Doch – oder eher deswegen – promoviert Gifty als Neurochirurgin, und experimentiert auf Labormäusen, um eine Methode zum Verständnis des neuronalen Belohnungszentrum zu entdecken.
Durch ihre Forschung möchte Gifty das Phänomen des menschlichen Suchverhaltens endgültig unter Kontrolle bringen und zeitgleich verstehen, warum mit ihrem Bruder Nana das passiert ist, was mit ihm passiert ist.
Denn darüber, wie oder woran ihr Bruder gestorben ist, möchte die junge Frau näher noch nicht einmal mit sich selbst sprechen, sage denn mit ihren engen Freunden:
„Er schaute mir lange in die Augen, länger als wir beide es üblicherweise taten,
und ich war dankbar, dass er nichts mehr sagte.
Dass er nicht wie so viele Leute fragte, wie es passiert war.“(122)
Den Gegenpol zur wissenschaftlichen Basis der Protagonistin bildet die religiöse Erziehung und Wahrnehmungswelt in Giftys Jugend und Kindheit, die auch im späteren Erwachsenenleben maßgebend für die Dynamik zwischen ihr und ihrer Mutter bleibt.
Gefallen Dir meine Inhalte? Schenk‘ mir einen Kaffee!
Das blinde Vertrauen ihrer Mutter in Gott und ihre Überzeugung der Allgegenwart göttlicher Liebe sind zwar selten sichtbar – denn die Art, ihre Kinder zu erziehen, ist eher herzlos als liebevoll – doch verliert sie nie wirklich ihren Glauben.
In Giftys innere blickend ist die psychologische Gradwanderung ihres Alltags also eine konstante Bewegung zwischen diversen Ecken und Winkeln von Kirchenschiffen und Laborräumen.
Mit der nächsten Buchbestellung kannst Du diesen Blog unterstützen!
Meine Links zu: Thalia * | Hugendubel * | bücher.de * | buch24.de*
Giftys Auseinandersetzung mit ihrer Trauer, der tiefen Depression der Mutter während des Verfalls von Nana und nach seinem Tod, ihre persönlichen Kreuzzüge in und zu Gottesdiensten und ihre Suche nach einer legitimen Bindung zu Gott – all dies beglaubigt ihre tiefe Bindung zur Gott liebenden Mutter und zu den religiösen Traditionen ihrer Familie – wie ein Besuch in Ghana ihr verdeutlicht.
Doch in Gifty steckt wesentlich mehr an progressiver, sachkundiger Natur – sie ist hochbegabt, betreibt angeblich sogar revolutionäre Forschung:
„»Im Ernst, Gifty, du bist erstaunlich. Du verwandelst den Schmerz über den Verlust deines Bruders in diese unglaubliche Forschung,
die eines Tages vielleicht Leuten wie ihm helfen wird.«“(177)
Gyasi greift erneut tief in die schwarze Seele und behandelt zwei tiefe, historisch gewichtige Kollektivtraumata – das entstehende Außenseitertum von Einwandernden und die Zerstörung schwarzer Familien durch Heroinsucht.
Doch ist Gifty einfach nicht die richtige Erzählerin für diese Geschichte. Sie liegt genau wie ihre Mutter in tiefer Depression, öffnet sich ebenso wie ihren Sexualpartner:innen auch nicht den Leser:innen – und deshalb ist keine echte Bindung zu diesem Text möglich.
Nicht erst an dieser Stelle, sondern im Laufe des gesamten Romans fand ich es daher schwierig, der Handlung gleichbleibend zu folgen.
Direkt nach Ende der Lektüre war ich überzeugt, dass es sich um kompositorische Unbeholfenheit handelte und Nanas Tod einfach zum falschen Zeitpunkt eintrat. Dass der Endmoment der Handlung after the fact zu abrupt war und für Giftys Biografie belanglos.
Auch in dieser Hinsicht hätte man den Bogen an andere Eckpunkte spannen können – der Klimax der Erzählung trat zu früh ein, das Danach hat nicht mehr gefesselt.
In einem Fall ist alles geendet, im anderen Fall hat sich nichts geändert.
Bis zum Ende des zweiten Drittels las ich „Ein erhabenes Königreich“ mit hohem und wachsendem Interesse. Danach hat es mich in zunehmender Weise enttäuscht.
Es fällt immer noch schwer, die Sachlage zu akzeptieren. Gyasis Art, zwei theoretisch auch in Bezug zueinander kaputtdiskutierte Themenkomplexe wie Wissenschaft und Religion in Giftys Familienmodell zu realisieren ist nicht weniger als genial. Doch schafft die Autorin es nicht, das riesige Potential ihrer Geschichte so zu realisieren, dass sie von Seite eins bis 304 fesselt.
Vielleicht liegt es ja an mir.
Hast Du bereits etwas von der Autorin gelesen?
Auf Deine Resonanz in den Kommentaren freue ich mich sehr!
Hier geht’s zur Leseprobe.
Bibliografie:
Titel: Ein erhabenes Königreich
Autor:in: Yaa Gyasi
Übs.:in: Anette Grube
Seitenzahl: 304
Erscheinungsdatum: 13.08.2021
Verlag: DuMont
ISBN: 978-3-8321-7110-0
Ein erhabenes Königreich bestellen: Thalia * | Hugendubel * | bücher.de * | buch24.de *
Mehr zum Thema:
Autorinnenseite von Yaa Gyasi im DuMont Verlag
Literarische Abenteuer. Yaa Gyasi: „Heimkehren“
New Yorker: Yaa Gyasi Explores the Science of the Soul
Mehr literarische Abenteuer:
Literarische Abenteuer. Walter Tevis: „Das Damengambit“
Die blutende Libido entstellter Weiblichkeit. Leïla Slimani: „All das zu verlieren“
Lesen | hören | verknüpfen: Sandra Falke im Netz
Du möchtest meinen Blog unterstützen?
Bestelle das nächste Wunschbuch über meine affiliate Links:
Thalia * | Hugendubel * | bücher.de * | buch24.de *
Mit einer Spende über PayPal unterstützt Du die Pflege dieser Webseite
und trägst zur Entstehung neuer Inhalte bei.
(durch Deine Bestellung über die mit * gekennzeichneten affiliate Links
oder die Werbebanner auf der rechten Seitenleiste
verdiene ich eine Kommission. Dir fallen keine Zusatzkosten an.)
Vielen Dank!
Kategorien:Home, Neuerscheinungen
Ging mir ähnlich. So wie die Schwerpunkte gesetzt sind, ist es Nanas Geschichte, die das Interesse festhält, dadurch hängt das Buch ziemlich in der Luft. Entweder hätte man beide Geschichten bis zum Schluss parallel erzählen müssen oder die angelegten Konflikte Giftys besser herausarbeiten.
Meine Besprechung zum Buch erscheint um 15 Uhr. Es ist sicher leichter lesbar als „Heimkehren“, aber nicht die Weiterentwicklung, auf die man hatte hoffen können.
LikeGefällt 2 Personen
Danke dir vielmals fürs teilen und für die interessante Resonanz!
Allerdings sehe ich es weniger ein, den Vergleich zweier Romane als Wertungskriterium zu wählen. Die Bücher sind thematisch, kompositorisch und in vielerlei anderer Hinsicht ja vollständig unterschiedlich.
Da die meisten (auch ich) wegen des bleibenden positiven Eindrucks von „Heimkehren“ hohes Interesse an der Neuerscheinung hatten, ist eine Erwähnung verständlich – doch würde ich „Königreich“ nicht als logischen, inhaltlichen oder thematischen Nachfolger eines anderen Romans betrachten. 🙂
LikeLike
Ich habe den Text auch nicht als logischen, inhaltlichen oder thematischen Nachfolger eines anderen Romans besprochen. Aber es ist der zweite Text einer Autorin, deren Debüt zwar vielleicht nicht gerade avantgardistisch, aber doch formal recht ungewöhnlich und thematisch mit dem Anspruch eines weitreichenden Gesellschaftsromans angetreten war. Und auch wenn sich glaube ich die meisten Rezensionen einig waren, dass der Roman schwächen aufweist, ist das der Grund, warum Gyasi zu Recht viel Beachtung erfahren hat und der zeitliche Nachfolger viel Aufmerksamkeit bekommt.
Wenn man Rezensionen also vor allem als LeserInnen-Sevrice sieht, muss mE der Bezug hergestellt werden. Aber auch Literaturwissenschaftlich macht es ja Sinn, Werke zu vergleichen (hier fällt zB auf, dass „Königreich“ bei allen Unterschieden das Problem wiederholt, zum Ende hin abzubauen), und mit etwas Abstand nach den Gründen verschiedener Werkphasen zu fragen. Wir wissen zB bei Llosa, dass es für den Bruch in den 70ern „philosophische“ Gründe gibt. Ob Gyasi in Zukunft noch einmal in Richtung eines Epochenwerks zielt oder sich eher weiter im Rahmen der zeitgenössischen Individualerzählungen bewegt, halte ich daher durchaus für beobachtenswert. Insbesondere auch vor dem Hintergrund, wie sehr von Marktanforderungen durchdrungen die heutige publizierte Literatur ist, so dass immer öfter das Debüt wie das „Alterswerk“ wirkt, weil dann im 1 bis 2-Jahresrhythmus Deadlines abgearbeitet werden müssen, während am Erstling (manchmal auch am Zweitling) über viele Jahre gearbeitet wurde.
LikeGefällt 1 Person
Hmm, interessante Argumente! Deine Ergänzungen werde ich, insofern der Drittling Licht sieht, beachten müssen. Meine Marktkenntnis hat sicherlich noch Wachstumspotential.
LikeGefällt 1 Person