Die hohe Kunst der Nichtigkeit. Colson Whitehead: „Der Koloß von New York“

Aus der Feder des US-Amerikanischen Autoren Colson Whitehead ist bereits diverses an Sachliteratur, Essays und Rezensionen entstanden. Seine Romane begeben sich an unentdeckte Orte und Momente der afroamerikanischen Geschichte und bringen verstörende Wahrzeiten zutage.

Dass auch die Stadt New York zur Kernidentität des zweifachen Pulitzer-Preisträgers gehört, ist in seinem Gesamtwerk nicht zu übersehen. Schafft „Der Koloß von New York“ es allerdings, auch diejenigen Leser:innen für die Heimatstadt des Autoren zu begeistern, die sie noch nie betreten haben?


© btb

Wie im Untertitel versprochen, errichtet Colson Whitehead in „Der Koloß von New York. Eine Stadt in dreizehn Teilen“ seine Heimatstadt aus den für ihn persönlich wichtigsten Orten, Momenten, Gemeinplätzen und Alltagsszenen.

In mit Ortsnamen wie „Port Authority“, „Central Park“ oder „Coney Island“ versehenen Texten beschreibt Whitehead Motive wie der erste Eindruck von der Stadt, der hektische Weg zur Arbeit, Szenen des Nachmittagsverkehrs und viele andere Facetten, die der Persönlichkeit von New York Ausdruck verleihen.

In Texten wie „Subway“, „Rush Hour“ oder „Regen“ liegt der Fokus auf denjenigen mit dem Milieu, den Gerüchen und Geräuschen der Stadt verbundenen Emotionen und Momenten, die an Ort und Stelle anwesenden Personen für den flüchtigsten Augenblick miteinander verbinden.

Die Texte mögen kurz handelnde Figuren berühren, mit denen man einige Minuten im Subway oder Bus, auf der gegenüberstehenden Parkbank oder im Regen verbringt – jedoch ist die Stadt in ihrem ständigen Wandel der einzig echte Protagonist dieses Bändchens.

An keiner Stelle geht der Beobachter auf seine Szenen näher ein – was ein recht statisches Gesamtbild entstehen lässt. Dies zeichne jedoch die sich ständig ändernde Stadt vor allem aus: sie steht nie still, man kann sie gar nicht in eine Geschichte einfangen; lediglich in Momenten beobachten.


Wie alle bedeutenden Kunstwerke hatte man sie die ganze Zeit
vor der Nase, doch jetzt sieht man sie zum ersten Mal.
Wie alle bedeutenden Kunstwerke wird sie dich überdauern.“(79)


Sicherlich werden allgemeine visuelle und auditive Assoziationen bei der Lektüre aktiv: der charakteristische Platzregen, Szenen aus dem Subway, das ebenso allgemein bekannte Regelwerk der nummerierten Straßen New Yorks, der Tanz der gelben Taxis, die majestätisch glänzenden Hochhäuser…


Jedoch fehlt Whiteheads Texten schließlich ein verfolgbarer Kern, eine Entwicklung; ein aktiver Protagonist oder ein Ariadnefaden.


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Es ist eine bittersüße Lektüre: so gerne möchte man den flüchtig begegneten Figuren weiter folgen.

Sie wecken Interesse, Empathie – der Autor hat an vielen Stellen ein schönes Gleichgewicht zwischen Besonderem und Allgemeinen geschaffen, obwohl die vorbeieilenden Männer, Frauen und non-binären Individuen selten in einem vollen Satz Beachtung finden.

Insofern könnte man aus diesem Buch problemfrei eine Reihe an Postkarten mit Motiven aus New York gestalten, die mit Zitaten von Whitehead geschmückt sind.

Die Auswahl wäre reichhaltig.


Allerdings fehlt auch eine einzige selbstständige Narrative; es fehlt an Spannung, Entwicklung oder verfolgbaren Kausalitäten. Die zwischenmenschlich treffsicheren Einzelszenen werden in keine personengebundenen größeren Zusammenhänge eingebettet; und so geht das Potential für eine Geschichte schließlich verloren.


Sowohl das Vorwort als auch der Klappentext der Originalausgabe heben hervor, wie die dreizehn Eindrücke explizit für diejenigen Leser:innen gedacht sind, die ihre eigenen Geschichten aus New York mitbringen; die dort bereits gewohnt oder zumindest einen Tag verbracht haben.

Ohne diese Assoziation ist es kaum möglich, an die Texte anzuknüpfen – egal, wie viele Folgen diverser Serien und Filme man gesehen hat, die in New York spielen.


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Aufgrund des ursprünglichen Erscheinungsdatums Januar 2005 mag auch die Rechtschreibung hier verwirren: statt „Koloss“, wie in Großbuchstaben auf dem btb-Cover, wird hier noch die alte Rechtschreibung angewandt. Nicht nur der Titel, sondern einige Textstellen hatten mich vor der Recherche dahingehend ein wenig irritiert, da wir ja nun das Jahr 2021 schreiben.

Ob eine kleine Überarbeitung den Gesamteindruck als flüssiger hätte gestalten können oder ob die alte Rechtschreibung einfach als Ausdruck des Zeitlichen stehen bleiben darf, sei allerdings der subjektiven Interpretation von anderen Leser:innen überlassen.


In einer Menschenmenge verschwinden. […]
Die Stadt beeilt sich, alle Spuren zu verwischen.
Das ist Vorschrift.“(108)


Während ich dem Klappentext insofern also Recht geben kann, dass dieses Büchlein jede:n bezaubern und berühren mag, der mal in der Stadt New York war, ließ dieser Erzählband von Colson Whitehead mich trotz zahlreicher Kenntnisse, visueller und informativer Assoziationen aus Filmen, Serien und anderen in der Stadt spielenden Erzählungen recht kalt zurück.

Anders als es bei „Harlem Shuffle“ oder „Nickel Boys“ der Fall war – die mich beide auf unterschiedlichste Art und Weise beeindruckten –, gehöre ich diesmal einfach nicht zur Zielgruppe des Buchs.

Und das als leidenschaftlicher Fan von Billy Joel.


Wer New York bereits in Person gesehen und erlebt hat, könnte hier einen Lesegenuss vorfinden.

Hier geht’s zur Leseprobe.

Bibliografie:

Titel: Der Koloß von New York. Eine Stadt in dreizehn Teilen
Autor:in: Colson Whitehead
Übs.:in: Nikolaus Stingl

160 Seiten | 11,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 13.12.2021
Verlag: btb (Tb)
ISBN: 978-3-442-77123-3

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  1. Toll geschriebene Rezension. Literarische Kollagen bedürfen stets eines Minimums an Komposition. Das scheint hier zu fehlen. Was schade ist trotz Billy Joel und Paul Auster 🙂

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