Lettisch-Amerikanische Philosophin, Essayistin und Professorin Judith N. Shklar (1928–1992) ist vor allem für ihren Essay Der Liberalismus der Furcht bekannt und zählt zu den wichtigsten Vertreter:innen der Liberalismustheorie.
Welche inhaltlichen Perlen sind in der neu aufgelegten Monografie „Über Ungerechtigkeit“ auffindbar – und warum handelt es sich um eine besonders schwierige Lektüre?

Judith N. Shklars Monografie „Über Ungerechtigkeit“ ist eine dreiteilige Abhandlung über die Unterschiede zwischen diversen interessanten Begriffen wie Unglück und Ungerechtigkeit, passive und aktive Ungerechtigkeit, Schuld, Notwendigkeit, Opfer und Täter.
Von einer klassischen Struktur absehend geht die Autorin bereits auf den ersten Seiten in medias res und schafft bereits durch ihre unvermittelten Gedanken einen Hauch an Verwirrung.
Die Monografie formuliert keinerlei Ansprüche, Leitfaden oder Kernbegriffe – was sie grundsätzlich vom Spektrum der Wissenschaftlichkeit entfernen würde.
Allerdings bietet die Autorin eine beeindruckende Anzahl an Verknüpfungen und Hinweisen, was ihre Fußnoten betrifft.
Shklar sinniert in einer eklektischen Karambolage an literarischen und kulturhistorischen Nuancen über Ungerechtigkeit im Kontext der feministischen Bewegung; im systemischen Rassismus – zeitgleich führt sie ihre Leserschaft in die Antike, nach Japan und Irland.
Auch die Etymologie einer Kernbegriffe, im Folgenden des Begriffs „Opfer“, wird von der Autorin erörtert:
„Opfersein ist ein passiver Begriff, wie man nur allzu deutlich an der Herkunft
des Wortes victim erkennen kann. Dem Oxford English Dictionary zufolge bezog sich
das Wort früher auf Lebewesen, die man tötete und einer Gottheit opferte.„(60)
Nicht nur die angesprochenen Begriffe selbst, sondern ihre soziopolitische Facettenklassifikation bieten potenziell interessante Erörterungen, Ausführungen und Untersuchungen an.
Beispielsweise differenziert Shklar zwischen Unglück und Ungerechtigkeit – und hebt hervor, dass Opfer im selben Sachverhalt von Ungerechtigkeit, Täter von Unglück sprechen würden.
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Des Weiteren spricht Shklar von passiver und aktiver Ungerechtigkeit; den Pflichten von Bürger:innen in diversen Staatssystemen und hebt die moralischen Pflichten eines jeden Individuums sowie ihre erheblichen Unterschiede in demokratischen und totalitären Systemen hervor.
Unglücklicherweise werden aus diesen zahlreichen hochgradig interessanten Ansätzen weder kohärente Argumentationspfade noch inhaltlich zusammenhängende Passagen ausgebaut: die Autorin springt immer wieder hin und her, kommt selten auf ihre anfänglichen Begriffe und Gedanken zurück; erstellt unergründliche Reihenfolgen von literarischen und historischen Beispielen, die kaum kontextualisiert werden können.
Beispielsweise vergleicht Shklar Agamemnons fiktives Heer und die reellen Opfer von Hiroshima (S. 117); sinniert ohne Rahmen oder Übergang über Gerechtigkeit bei Charles Dickens (S. 18 f.), um im folgenden Kapitel ohne Zwischenstopp, Begründung oder Zusammenfassung über Arten von Gerechtigkeit zu sprechen.
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Verallgemeinerungen, schon in der Natur von Begriffen wie „Amerika“ oder „Bürger“ oder „Frauen“ – auch ohne einen zeitlichen Kontext zu ergänzen – dienen einer zusätzlichen Verwirrung im besprochenen kulturellen, historischen und geographischen Raum.
Es ist dahingegen befremdend, dann plötzlich zu sehen, wie die Autorin nur im letzten Teil eine alleine stehende politgeografische Klärung vornimmt – die einige vorangehende Passagen eher unterläuft als unterstützt.
Kleinstmengen an Gemeinsamkeiten und Verknüpfungsmöglichkeiten sind zu Genüge vorhanden und können von passionierten Interpretator:innen ausgelesen werden.
Doch macht Shklar es ihren Leser:innen wirklich nicht leicht, hier einen aufschlussreichen Kern, eine Begriffsklärung – oder eine tatsächliche These zu finden.
„Wirkliche Tragödien sind jedenfalls sehr selten. Was politische Notwendigkeit genannt wird, ist nicht wirklich schicksalhaft. Keine Zwangssituation oder im eigentlichen Sinne tragisch.“(117)
Trotz paralleler Recherchen und einem sehr aufschlussreichen Austausch mit der lieben Jule, die Philosophie studiert (und den Band zeitnah im Bionoema Blog besprechen wird) fühlte ich mich bei dieser Lektüre nur zunehmend irritiert.
Schließlich könnten schlaue Leser:innen mir oder uns an dieser Stelle aus der Bredouille helfen und im Kommentarium einen Text von Judith N. Shklar als Einführung ins Werk der Autorin empfehlen.
Während „Über Ungerechtigkeit“ zum Nachdenken und zu mutigen Interpretationsversuchen führte, in Kleinstmengen also gar eine beflügelnde Wirkung zur Diskussion besaß, gehört die Monografie definitiv nicht zur Kategorie „angemessenes Erstwerk“.
Ohne entweder die restlichen Werke der Autorin oder alle vorhandenen Referenzen sehr gut zu kennen ist hier weder aufschlussreiche Lektüre noch weiterführender Erstkontakt möglich.
Eventuell werden Kenner:innen der Autorin hier eine passende Ergänzung bieten können. Bis dahin bleibt eine Leseempfehlung – sowohl im Besonderen als auch im Allgemeinen – aus.
Ich freue mich nun sehr auf Deine Meinung zum Thema.
Hier geht’s zur Leseprobe.
Bibliografie:
Titel: Über Ungerechtigkeit. Erkundungen zu einem moralischen Gefühl
Autor:in: Judith N. Shklar
Übs.:in: Christiana Goldmann
225 Seiten | 25,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 28.10.2021
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
ISBN: 978-3-7518-0338-0
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Mehr literarische Abenteuer:
Von A(eneis) bis (K.I.)Z. Katharina Wesselmann: „Die abgetrennte Zunge. Sex und Macht in der Antike neu lesen“
Die blutende Libido entstellter Weiblichkeit. Leïla Slimani: „All das zu verlieren“
Lesen | hören | verknüpfen: Sandra Falke im Netz
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„Ohne entweder die restlichen Werke der Autorin oder alle vorhandenen Referenzen sehr gut zu kennen ist hier weder aufschlussreiche Lektüre noch weiterführender Erstkontakt möglich.“ Offensichtlich auch Ihnen nicht – selten eine derart uninformierte Fehllektüre gelesen.
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Ich gratuliere zur korrekten Interpretation dieses Abschnitts! Selbstverständlich gebe ich Ihnen Recht bezüglich der fehlenden Resonanz mit diesem Buch. Nun ermutige ich Sie zur aufmerksamen Lektüre des restlichen Beitrags, in dem Sie informative und konstruktive Begründungen meines Urteils finden werden, sehr geehrte/r Herr/Frau Anonym. Herzlichst 😉
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