Drei Kurzrezensionen, Edition Kurzform: „Nachmittage“, „Batseba“ und „Noon“

Eine obszöne und scharfsinnige Adaption der ältesten Stoffe aus literarischer Weltgeschichte, eine misslungene Reproduktion vergangener Brillanz – und ein Meisterstück eklektischer Experimentalliteratur.

Im heutigen Beitrag aus der Reihe „Drei Kurzrezensionen“ teile ich meine Eindrücke zu drei vor Kurzem gelesenen Lektüren.


Zusätzlich zu meinen ausführlichen Buchbesprechungen erscheinen seit Kurzem unter dem Serientitel „Drei Kurzrezensionen“ gebündelte Momentaufnahmen. Diese Texte entstehen meist als unmittelbare Eindrücke direkt während oder kurz nach der Lektüre und sollen lediglich eine Impression des jeweiligen Buchs darstellen. Weiteres können wir bei Interesse sehr gerne in den Kommentaren besprechen und ausführen.

Im heutigen Beitrag habe ich meine Gedanken zu drei literarischen Kurzformen-Variationen gebündelt: Storys, fragmentarisch konstruierte Romane und eklektische experimentalliterarische Textbauten.


Ferdinand von Schirach: „Nachmittage“


© Luchterhand

Nachdem Ferdinand von Schirach mit „Verbrechen“ und „Schuld“ seine Position am Gipfel des literarischen Hochgebirge sicherte und diese mit „Terror“ und „Gott“ festigte, war ich mir der Unantastbarkeit seines Status sicher.

In sechsundzwanzig Fragmenten, Erzählungen, Reflexionen, Storys lässt von Schirach nun in „Nachmittage“ diverse private und berufliche Begegnungen Revue passieren – und löst eine Lawine der Enttäuschung aus.

Venetien, Tokio, Taipeh, Zürich, Oslo – die beschriebenen Berührungen, aus denen sich im Laufe der Lektüre ein willkürliches Netz an Koordinaten formt, können als existenzielle Zwischenorte beschrieben werden.


Inspirierende und beunruhigende Figuren, denen von Schirach teils geplant, teils ungeplant in weltweiten Hotelfoyers, Cafés oder Straßenecken gegenübersteht, wechseln sich ab mit lakonischen Grübeleien über Kunst, Kultur, Literatur und Religion.

Obwohl die längeren Geschichten fesseln und fangen, lassen die kürzeren Fragmente wieder mit geringerer Begeisterung am Text vorbeiblicken und die Gedanken schweifen. Die schönen Momente und zitierfähigen Stellen, derer es nicht mangelt, lassen sich weder gemeinsam noch individuell noch kombinatorisch verzehren. Es erklingt eine graduell lauter werdende Kakophonie.

Wäre dies ein Debüt, würde sowohl die Kunst des fesselnden Erzählens als auch die vielfältigen Gedanken über Literaten, Künstler*innen und Schauspieler*innen mit Sicherheit Interesse wecken und Lob ernten – doch nachdem von Schirach bereits so viele bewegende und persönlichkeitsstarke Lektüren erbracht hat, kann „Nachmittage“ auf dieser Skala kaum mithalten.

Fazit: Eine blasse Reproduktion der bisherigen herausragenden Formate des Autors – die ich dennoch weiterhin empfehle.

Hier geht’s zur Leseprobe.


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Stanka Hrastelj: „Batseba“
Übersetzt von Metka Wakounig


© homunculus

Stanka Hrastelj bündelt in „Batseba“ eine enorme Vielfalt an Assoziationen, Ideen und Eventualitäten, indem sie die biblische Erzählung von der Ehe zwischen David und Batseba in die zeitgenössische Moderne einwebt.

Intertextuelle Scherben und im Hinterkopf hockendes Detailwissen zu Batseba, David, Salomon und ihre komplizierte Familiengeschichte rieseln während der Lektüre nach und nach ein – und mischen sich mit gewagten Ausarbeitungen des bekannten Stoffes.

Die Geschichte wird mit diversen Triggerwarnungen eingeleitet – und für zarte Gemüter ist „Batseba“ tatsächlich nicht gedacht.


Direkt im Einklang der Erzählung wird der gewaltvolle Umgang von Batsebas erstem Ehemann bereits zum Beginn ihrer Beziehung geschildert, im weiteren Verlauf kommen einvernehmliche sowie nicht einvernehmliche s*xuelle Gewalt vor. Zudem werden diverse selbstverletzende Handlungen erörtert.

Insofern der Wille zum Umgang mit den unerwartet wuchtigen und heftigen Inhalten besteht, schimmern andere Aspekte dieser Erzählung in gleicher Helligkeit neben den obszönen Passagen des Textes.

Sowohl die mit reichlich Sarkasmus bestückten Überschriften für die sehr kurzen Kapiteln als auch die Ausweitung des Stoffes bieten reichlich Reflexionsboden: Beispielsweise die modernisierte Modifizierung, in der König David sich nicht nur wegen ihrer Schönheit, sondern aufgrund ihres Intellekts an Batseba interessiert; oder Batsebas von beiden Ehemännern bewilligter Wunsch zur Unabhängigkeit und eigener Karriere.

Makabrer muten Details wie das Vorkommen von Twitter und Instagram in dieser recht ungewöhnlichen Erzählwelt an; scharfsinnig ist der facettenreiche Umgang mit depressiven und selbstverletzenden Tendenzen.

„Batseba“ ist eine ungewöhnliche, kluge Anpassung voller Überraschungen und intertextuellen Hinweisen, die sich zwischen den Zeilen verbergen. Lohnend ist dahingehend eine zweite Lektüre nach der Verinnerlichung zahlreicher Ergänzungen aus dem Anhang.

Obwohl diese strukturell fragmentierte, lakonisch formulierte Geschichte vom Umfang her kaum als Roman wahrgenommen kann, bietet sie mehr als genügend impliziten Resonanzboden, wo es an quantitativ ausschweifender literarischer Ausarbeitung fehlen würde.


Fazit: Ungewöhnlich, obszön, fulminant, rasierklingenscharf!



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Lisa Kränzler: „Noon“


Kann man einen gesamten Verstand, eine komplette Existenz in vereinzelten Denkprozessen defragmentieren, sich darin verlieren, und intakt zurückkehren? Nun – Kränzlers Fußnoten haben Fußnoten. And I’m here for it.

Vom Cheshire Cat zu Kleopatra, von Kepler zu Madonna, von moskitoischen Euphemismen zu frei f!ckenden Haien, von Thomas Bernhard zu Ein Fisch namens Wanda, per Anhalter nach Gizeh –
äh, what?

Zudem immerwährende Auseinandersetzungen mit dem eigenen Körper – in expliziten Einzelteilen –, kreative Selbstzweifel – und immer wieder ein sehr stark pulsierendes, beobachtendes, universalphilosophisch schredderndes Perpetuum mobile.

Einerseits ist es beeindruckend, wie Kränzler sich in jeden wissenschaftlichen und historischen Diskurs einschleicht, mehrere existenzialistische Krisen durchlebt und dabei stets einen sehr humoristischen Weltblick behält.

Gestatten, eine Kostprobe:

Laut Spinoza verlaufen die Strings Geist und Materie parallel, laut Kränzler ist das denkende Fleisch ein gedrehter Strick.“ (43)

„Die Seele ist der Körper, der sich spürt“, meint Jean-Luc Nancy.
„Der Schreiber ist ein Spürer, der sich absondert“, weiß Lisa-Marie Kränzler.
“ (145)


Slapstick und höhere Sprachmathematik finden in dieser (in größten Teilen, trotz geschickten Ablenkungsversuchen, selbst-)Beobachtung komfortabel zueinander.

Knausgård on (female) Steroids.

Fazit: Dieses von der Autorin Logbuch genannte Sammelsurium kann zur richtigen Zeit, am richtigen Ort, mit der richtigen Einstellung mit viel Genuss gelesen werden. Doch weder in einem Zug, noch bei müdem Geist.

Für das optimale Ergebnis: sich vollständig auf das Eklektisch-abstrakte einlassen und den mit Potpourri gefüllten Schnellzug der Sätze, Maxime, Abschnitte und Zitate langsam auf dem literarischen Gaumen zerlegen.

„Noon“ ist Selbstbekenntnis, Tagebuch und Meisterstück der Lexikologie. Abstrakte Kunst mit viel Humor. Fesselnd, irritierend, faszinierend. Und mensch findet sich wieder in diesen strukturell komplexesten textuellen Ausbauten – die schließlich auf den kränzler’schen Menschenkern zurückführen.


Das einzige, was ich an diesem Buch nicht mag, ist ab und zu in Großbuchstaben angeschrien zu werden. Aber gut, noBuch is perfect.


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