Eine Gradwanderung zwischen Gesellschaftskritik und Magie; eine abgefahrene Geschichte, die vor ihrer Zeit entstand – und eine majestätisch-brutale Satire. Im heutigen Beitrag aus der Reihe „Drei Kurzrezensionen“ teile ich meine kompakten Eindrücke zu drei vor Kurzem gelesenen Romanen, die die menschliche Welt auf äußerst unterschiedlichen, doch immer faszinierenden Wegen transzendieren.
Zusätzlich zu den regulären ausführlichen Buchbesprechungen erscheinen seit Kurzem unter dem Serientitel „Drei Kurzrezensionen“ gebündelte Momentaufnahmen. Diese Texte entstehen meist als unmittelbare Eindrücke direkt während oder kurz nach der Lektüre und sollen lediglich eine Impression des jeweiligen Buchs darstellen. Weiteres können wir bei Interesse sehr gerne in den Kommentaren besprechen und ausführen.
Im heutigen Beitrag habe ich meine Gedanken zu drei lesenswerten Romanen gebündelt, die sich mit düsteren Gedanken beschäftigen, die Menschenwelt transzendieren – und (in zwei Fällen) großartige Satire an den Tag legen, die erschreckend und amüsant zugleich ist.
Kurt Vonnegut: „Die Sirenen des Titan“
Übersetzt von Harry Rowohlt

Nach Angaben der Universitätszeitung Harvard Crimson habe Kurt Vonnegut „Die Sirenen des Titan“ innerhalb eines Abends konzipiert, nachdem ihn jemand auf einer Party dazu anforderte.
Dennoch birgt dieser ursprünglich 1959 erschienene Roman viele zentrale Elemente im Werk des US-Amerikanischen Satirikers und ein hochgradig komplexes existenzialistisches Deutungspotenzial.
In simpler Sprache geschrieben und im Lesefluss gut verträglich, rührt der Roman an enorm gewichtigen Themen wie der freie Wille des Menschen, der Sinn des Lebens, die Gleichgültigkeit Gottes und die Entstehung des Universums. Durch die direkte – und in Teilen recht robuste – Bearbeitung dieser Themen verschleiert er jedoch einiges, was erst bei der Reflexion deutlich wird.
Vonnegut lebte mit dem Buch quasi vor seiner Zeit: Science-Fiction war in den 1950er Jahren kein beliebtes oder angesehenes Genre. Erst nach dem Erfolg von Schlachthof 5 (1969) wurde Vonnegut berühmt, und es erschien die erste deutschsprachige Übersetzung der „Sirenen“ von Harry Rowohlt. Dies ist die überarbeitete Ausgabe der hervorragenden Übersetzung, die Vonneguts Sprache und Stil bestens einfängt und überträgt.
Wie wäre der Inhalt dieser schrägen Geschichte zu fassen?
Zwischen den Materialisierungen des gotthaften Winston Niles Rumfoord in seinem Haus in Newport, Rhode Island; dem reichsten Amerikaner Malachi Constant, der den Planeten Erde bald nach seinem Treffen mit Rumfoord verlassen muss, da dieser im chrono-synklastischen Infundibulum gefangen ist, in die Zukunft sehen kann und Constants Schicksal ankündigt; einem Krieg zwischen Mars und Erde, der unerwartet ausgeht, und makaber-schrägen Aufenthalten auf dem Merkur und dem Titan –
– bleibt das Tun und Treiben auf dem Planeten Tralfamadore in Erinnerung, dessen Schicksal nur auf zwei Seiten geschildert wird und dem Werdegang der Menschheit doch auf so eine gruslig-treffende Art und Weise ähnelt, dass schon nur Anhand dieser Passage die Schärfe und Treffsicherheit von Vonneguts Satire klar werden. Denn die Geschichte, die zwischen den Zeilen erscheint, erzählt viel über die menschliche Natur, über die beängstigende Nichtigkeit unserer gesamten Existenz – und darüber, wie lächerlich und zugleich notwendig das Konzept von Göttern und Religion für die menschliche Psyche ist.
Fazit: Wer Satire, Sozialkritik, Abenteuer und fremde Planeten mag, wird sich in diesem fesselnden, abgefahrenen, witzigen, fantasievollen Roman sehr gut zurecht finden.
Hier geht’s zur Leseprobe.
Kurt Vonnegut: Die Sirenen des Titan. Heyne Verlag, 2023. 352 S., 16 € (D).
Werte*r Leser*in!
Dieser Buchblog ist unabhängig. Seine Inhalte entstehen aus der literarischen Leidenschaft
einer einzelnen Person und können nur mit Deiner Unterstützung gedeihen und wachsen.
Nicht nur mit Deiner Lesezeit, sondern mit dem Teilen und Empfehlen der Beiträge an andere
literarisch interessierte Personen trägst Du zu diesen Prozessen bei. Danke schön!
Optional kannst Du die Pflege dieser Webseite und die Entstehung neuer
Inhalte gerne zusätzlich auf folgenden Wegen unterstützen:
• Bestellung bei genialokal.de* | Thalia * | bücher.de * | buch24.de *
• Spende über PayPal
• Abonnement auf meinem YouTube-Kanal
• Kauf meiner Lesezeichen (E-Mail an sandra.falke.libri@gmail.com)
Ausführliche Infos zum Thema Support findest Du hier.
Vielen Dank für Deine Unterstützung!
Percival Everett: „Die Bäume“
Übersetzt von Nikolaus Stingl

Dieses rasante, köstlich humorvolle und schonungslose Mordmysterium ist nicht nur brutal, sondern genial.
Everett gelingt mit „Die Bäume“ nicht nur eine bitter-lustige Gegenüberstellung von Schwarzen und weißen Stereotypen im hinterwäldlerischen US-Milieu, sondern eine facettierte Auseinandersetzung mit der Geschichte des Amerikanischen Rassismus.
Auch wenn die in den zunehmend fantastisch anmutenden Mordfällen ermittelnden Schwarzen Detektive ebenso durch starkes Klischeepotential gefährdet sind, ist es die maßlose Idiotie der weißen Bevölkerung von Money, Mississippi, die ihre brutalen Tode eher mit Schadenfreude als mit Trauer verfärbt.
Menschen sterben auf erbarmungslose Art und Weise – doch sind nicht die Morde sensationell, sondern der neben den Leichen liegender und ständig verschwindender Schwarzer toter Körper, den die Detektive verfolgen und identifizieren müssen. Die Leiche sieht aus wie Emmett Till – eine Tatsache, die die grausame Geschichte von Money in einen breiteren historischen Zusammenhang stellt.
Großartig ist zudem, dass Everett sein Konzept mit absoluter Zielsicherheit durchzieht: die Skala der Morde, der Motive und der Ideologie hinter der brutalen Rache nimmt immer größere Züge an und endet in einem majestätisch-brutalen Finale.
Fazit: Ohne weiter zu spoilern kann ich allen Freund*innen des brutalen Galgenhumors und satirischer Rassismuskritik nur wärmstens ans Herz legen, diese phänomenale Stück Literatur zu lesen.
Hier geht’s zur Leseprobe.
Percival Everett: Die Bäume. Hanser Verlag, 2023. 368 S., 26 € (D).
Ayanna Lloyd Banwo: „Als wir Vögel waren“
Übersetzt von Michaela Grabinger

In einer düsteren Liebesgeschichte webt Ayanna Lloyd Banwo zwei spannende Motive aus der trinidadischen Folklore zusammen – und knüpft mit ihrer intensiven Erzählung an großen Werken Schwarzer Autor*innen wie Toni Morrison an.
Legenden, die mit einer starken Bindung zum Tod und den Toten einerseits, dem Heiligtum des ewigen Lebens andererseits zusammenhängen, spiegeln sich in den Familiengeschichten von Yejide und Darwin, die einander unter ungünstigen Umständen auf dem Friedhof des fiktiven Port Angeles in Trinidad begegnen. Doch können die jungen Erwachsenen vom ersten Kontakt an nicht leugnen, dass zwischen ihnen eine Bindung besteht, die ihre eigene menschliche Existenz transzendiert.
Banwo gelingt auf ganz wunderbare Art die Gradwanderung zwischen Gesellschaftskritik und Magie: sie skizziert mit dem Rastafari Darwin den mutigen und unverdorbenen, vom Tod unberührten Helden, während Yejide als Gegenpol fungiert, da sie als Erbin der außersinnlichen Wahrnehmung ihrer Familie eine Kraft besitzt, die es ihr erlaubt, den Tod in und an anderen zu sehen, zu hören und zu fühlen.
An diesem Punkt wäre Klischeegefahr einzuläuten – doch Banwo flechtet hier dunkle und helle, komische und tragische, menschliche und magische Elemente in gleichen Maßen ein, sodass die Erzählung zwar offensichtlich in fantastische Gefilde abdriftet, doch nie ihre psychologische Komponente verliert.
Dennoch treten einige Probleme hervor. Umwerfend stark beschriebene Passagen wechseln ab mit einer in Teilen unsicher aufgebauten Exposition; die erhoffte Spannung ebbt in Momenten ab; das Ende ist argumentativ eher abrupt und erwartbar.
Fazit: Summarum hätte ich mir daher mehr Seiten, mehr Aufbau, mehr Ausbau, mehr Präzision gewünscht, denn eine klare sprachliche Wucht – und die Fähigkeit, animalisch-brachiale Emotionen in lyrisch-sanfte Passagen zu transkribieren – hat Banwo definitiv bereits gezeigt. Ich bin gespannt auf weiteres von der Autorin!
Hier geht’s zur Leseprobe.
Ayanna Lloyd Banwo: Als wir Vögel waren. Diogenes Verlag, 2023. 352 S., 24 € (D).
Gerne können wir uns in den Kommentaren über Deine letzten Lektüren und die drei besprochenen Bücher unterhalten. Ich freue mich auf Ergänzungen und Eindrücke.
Du möchtest meinen Blog unterstützen? Ausführliche Infos findest Du hier.
Dein nächstes Buch über meine Links * bestellen:
genialokal.de* | Thalia * | bücher.de * | buch24.de *
Literarische Kaffeekasse: Spende über PayPal
Vielen Dank für Eure großzügige Unterstützung: Anna, Sebastian und Michael.
Vielen Dank für Eure Unterstützung: Andreas, Karl, Orsolya, Dominik, Vassiliki, Debbie, Sofie, Corina, Melanie, Anne, Jule, Sylvia, Boris, Friederike, Annika, Tanja, Snezana, Jens, Ilona, Claudia, Viktoryia, Monica, Sebastián, Celina und Katha.
(durch Deine Bestellung über die mit * gekennzeichneten affiliate Links oder die Werbebanner auf der rechten
Seitenleiste verdiene ich eine Kommission. Dir fallen keine Zusatzkosten an.)
Audio | Video | aktuelle Lektüren | E-Mail | Support: Sandra Falke im Netz
Kategorien:Home, Neuerscheinungen
Kommentar verfassen