In ihrem neuesten Roman „Schwindende Welt“ dekonstruiert Sayaka Murata den wichtigsten gesellschaftlichen Vertrag von allen: Sie hebt die Familie als Menschen zusammenhaltendes Element vollständig auf.
Bei der Lektüre stutzen, staunen und schrecken lässt zunächst einmal das Konzept der künstlichen Fortpflanzung. Während Eheschließung und Elternschaften als übliche Lebensmodelle gelten, werden körperliche Bedürfnisse entweder gar nicht oder außer Haus befriedigt – denn Sex zwischen Ehegatt*innen gilt als Inzest.
Eine ironisch-kritische Zuordnung des gutbürgerlichen Ehemodells, in dem diese Regeln in Teilen ja nun offensichtlich als ungeschrieben aufgestellt galten.
Makaber wird’s beim Plan „jeder Mensch ist Mutter für jedes Kind“, denn in einer experimentellen Stadt in Chiba bringen auch Männer Kinder zur Welt. Der Nachwuchs wird an den Staat abgegeben, familiäre Bündnisse verfallen – und auch für körperliche Dränge gibt es Sauberkammern, in denen Druck ganz steril abgebaut werden kann.
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Murata bietet nicht nur faszinierende Reflexionen zu empirischen und ideologischen gesellschaftlichen Extremen, sondern lässt die Nuancen ihrer Erzählwelt mittels divergierender Figurenperspektiven aufgehen. Gerade die vielschichtige Aufbereitung augenscheinlich krasser Ideen, die dann sehr sachlich und pointiert in Dialogen behandelt wird – als wäre es das normalste der Welt –, hat dem Text seine Schlagkraft gegeben.
„Schwindende Welt“ ist eine hervorragende Reflexion über das, was uns als Menschen ausmacht, unsere tiefsten Ängste – und womöglich den Grund unserer wachsenden Einsamkeit in einer hochgradig individualistischer Zeit.
Für dystopisch lesende und Freund*innen des Schrägen spreche ich eine dringende Leseempfehlung aus!

Bibliografie
Titel: Schwindende Welt
Autor*in: Name
Übs.*in: Ursula Gräfe
267 Seiten | 24,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 13.08.2025
Verlag: Aufbau
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