Salman Rushdies neuester Roman „Victory City“ ist indische Dichtung und sozialkritisches Panorama zugleich. Über Jahrhunderte folgen Lesende einer göttlichen Protagonistin – die an der Menschlichkeit ihrer Zeitgenoss*innen wieder und wieder zugrunde geht.

Salman Rushdies Roman „Victory City“, aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben, basiert auf historischen Begebenheiten – die jedoch mit einer ordentlichen Prise des Sagenhaften ausgeschmückt worden sind.
Rushdie erzählt die Lebensgeschichte einer mächtigen Stadt in Südindien, die aus einer Handvoll Samen geschaffen wird und zu einem Wunder der Welt emporwächst.
Zeitgleich schildert die Handlung das Leben der Schöpferin des Victory City: Pampa Kampana, eine Waise, die von einer Göttin auserkoren wird und deren Schicksal zur Stadt gebunden bleibt.
Bis zum Untergang Bisnagas.
Die Handlung ist in vier Teile gegliedert –
Geburt, Exil, Ruhm und Untergang – die einen Großteil potenzieller erzählerischer Spannung argumentativ vorwegnehmen.
Doch ist für diese sich über zwei Jahrhunderte streckenden Geschichte einer Zivilisation eher zu folgern, dass der Weg das Ziel ist, dass realistisch gesehen die gesamte Historie von Bisnaga von Erfolg und Krise gezeichnet ist – und dass Ereignisse sich im Laufe der Geschichte immer wiederholen, sofern neue Generationen nicht von ihren Vorfahren lernen.
„Er kannte alle möglichen Götter, […]
flüssige, sogar gasförmige Götter,
doch dieses Konzept einer Geistergottheit verstörte ihn.“(95)
Obwohl es sich um eine teils märchenhafte, fantastische Erzählung handelt, wird dezidiert über viele brennende politische Fragen in Bisnaga berichtet, die nahe an zeitgenössischen Diskursen stehen: Religionsfreiheit, die soziale Position von Frauen, Bildungsgleichheit, queere Rechte und das Konzept der Sexualmoral sind nur einige der Themenkomplexe, um die es sich durchgehend dreht.
Zeitgenössisch anmutende Probleme werden durch eher für die Handlungszeit im 14.–16. Jahrhundert charakteristische Konflikte ergänzt – welche von den Frauen des Königs hat den größten Einfluss am Hof; wie schützen Mütter ihre einen Anspruch auf den Thron habende Söhne, wenn andere Mütter diese töten wollen; wie verhält sich die Psychologie eines Kampfelefanten mit sensiblen Füßen?
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Humor und Realismus, historisch anknüpfbare Nuancen und soziopolitisch brennende Themenkomplexe und so vieles Mehr hat Rushdie in diese üppige Entstehungs- und Zerfallsgeschichte eingeflochten.
Umso mehr kristallisiert sich die Art der Erzählung nicht als eine einzelne Linie, der zu folgen ist, heraus, sondern wird hier ein gesellschaftliches Panorama gezeichnet – „Victory City“ ist in gleichen Mengen Milieustudie, pseudohistorischer Zeitzeuge und Heldinnensage.
„Früher einmal war ich eine Königin.
Jetzt bin ich eine Revolutionärin.
Oder ist das zu hoch gegriffen?
Sagen wir, ich bin eine Hexe hinter einem Wandschrank.“(206)
Die Geschichte, so der Erzähler, ist modelliert und angepasst nach dem fiktiven Jayaparajaya, welches von der Protagonistin Pampa Kampana selbst niedergeschrieben wurde und nur in Teilen erhalten geblieben ist.
Handelt es sich hier um ein Kunstmittel, welches die Sachlichkeit der Schilderung erhöhen und Distanz erzeugen soll?
Warum sollte auf ein fiktives Epos oder eine fiktive Historie hingewiesen werden, auf ihre Entstehungsgeschichte eingegangen werden, wenn die unmittelbare Geschichte von Bisnaga bereits komplex und interessant genug ist?
Eine Frage, die für divergierende Interpretationen offen bleibt.
Meines Erachtens ist eine zusätzliche Einrahmung unnötig – das Buch hätte sich organischer lesen lassen, wäre es mit weniger Vermerken zu sich selbst versehen gewesen. Doch ist mir bereits aus den „Satanischen Versen“ bekannt gewesen, dass Rushdie immer wieder gerne aus dem Rahmen seiner Materie tritt und sich erkenntlich macht, insofern wunderten diese Passagen mich weniger.
Fest steht auch, dass das Buch in vielerlei Hinsicht im Geiste einer klassischen indischen Dichtung formuliert und konzipiert worden ist – so werden beispielsweise bestimmte Passagen direkt aus der Jayaparajaya zitiert, die an die Ramayana oder ähnliche Texte erinnern (sollen).
Stünden die ‚Kommentare des Verfassers‘ nun noch beispielsweise als ergänzende Fußnoten neben dem ‚zitierten‘ Text, hätte der erstrebte Eindruck meines Erachtens wesentlich authentischer erzielt werden können.
„Nichts ist von Bestand,
und ebenso ist nichts ohne Bedeutung.
Wir steigen empor, wir stürzen ab […].
Wir machen weiter.
Auch ich hatte Erfolg, und auch ich scheiterte.“(410)
Salman Rushdies „Victory City“ ist eine facettenreiche fiktiv-historische Abhandlung über göttliche Wesen, sagenhafte Ereignisse, mächtige natürliche Kräfte und wahre Wunder. Die Entstehung von Bisnaga, die Jahrhunderte andauernde Selbstopferung von Pampa Kampana für den Ruhm der erschaffenen Stadt und die Etappen der natürlichen, unvermeidbaren Entwicklung von Geburt bis Untergang sind faszinierend zu betrachten.
Es ist zweifelsohne die Protagonistin, der zu folgen durch die gesamte Handlung hindurch ein Genuss ist: ihre Kraft und Weisheit inspirieren, ihre Taten erstaunen. Zeitgleich ist ihre bleibende Menschlichkeit sowohl authentisch als auch tragisch.
Ihre Resilienz, die genauso auch als Sturheit gesehen werden kann, ihr Wille, Bisnaga zu neuem Ruhm zu verhelfen, ihre Verflochtenheit mit dem zum Verfall bestimmten ‚Kind‘, die sie immer wieder zum Fall bringt – Pampa Kampana selbst beschreibt den Ausklang treffend als ein Treffen von „Triumph und Versagen in aller Demut“ (410).
Obwohl die Erzählung meines Erachtens im Gesamten etwas zu langatmig ist und die wechselnden Herrscher je Figur und Generation weniger Spannung, weniger Empathie und Weniger neues mit sich bringen, bleibt es ein lesenswertes Erlebnis, Pampa Kampanas Entwicklung, Strategien und Positionen zu verfolgen.
Dies gilt auch für alles, was figurendynamisch im Zusammenspiel mit der Protagonistin geschieht.
Pampa Kampanas Beziehungen zu neben, über und unter ihr stehenden König*innen, ihre Dekaden überdauernden Rivalitäten mit anderen am Hof einflussreichen Personen und die wechselhaften Beziehungen zwischen Pampa Kampana und ihren Töchtern – geboren und angenommen – durchgängig gelungen und faszinierend.
Wer sich also für indische Dichtungen und indische Geschichte begeistert, wer komplexe, sozialkritisch schattierte, üppige Texte über die historischen Fehler von Herrschern und Gesellschaften lesen möchte, die zeitgleich von starken und komplexen Heldinnen getragen werden, wer Göttliches und Fantastisches in Kombination mit politisch-kulturellen Analysen interessant findet, wird hier ein anregendes Leseerlebnis vorfinden.
Darüber hinaus spreche ich meinerseits allerdings nur eine eingeschränkte Leseempfehlung aus – um das positiv hervorgehobene genießen zu können, müssen Lesende nämlich auch ein gutes Gedächtnis und viel Geduld für dasjenige mitbringen, was meines Erachtens als Knäuel von Nebensächlichkeiten auf der Strecke bleibt. In „Victory City“ ist nämlich auch davon vielerlei zu finden.
Hier geht’s zur Leseprobe.
Bibliografie:
Titel: Victory City
Autor*in: Salman Rushdie
Übs.*in: Bernhard Robben
416 Seiten | 26,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 20.04.2023
Verlag: Penguin Random House
ISBN: 978-3-328-60294-1
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