Dass es sich bei Temur Babluanis fesselndem Roman „Sonne, Mond und Kornfeld“ um ein Debüt handelt, würde nicht ein einziger Lesender merken: die spannende Geschichte, der nuancierte Protagonist und die gekonnt komponierten Figurendynamiken lassen das üppige Buch kaum aus der Hand legen.
Spannung, Psychologie, Kulisse – Nino Haratischwili, Alexandre Dumas und Fjodor Dostojewski lassen grüßen. Liegt es an Babluanis Renommee im filmischen Bereich?

Der georgische Filmregisseur, Drehbuchautor und Schauspieler Temur Babluani studierte am Staatlichen Theaterinstitut Tbilissi und lebt derzeit in Paris.
Für den Film „Die Sonne der Wachenden“ (1992) erhielt Babluani an der 43. Berlinale den Silbernen Bären für „Besondere künstlerische Leistung“.
„Sonne, Mond und Kornfeld“, übersetzt von Rachel Gratzfeld, ist sein erster Roman und wurde 2019 mit dem SABA-Literaturpreis, der bedeutendsten literarischen Auszeichnung Georgiens, für das beste Debüt ausgezeichnet.
Dass die Auszeichnung mehr als verdient ist, fällt bei der Lektüre schnell auf.
Oder auch nicht – weil die Lektüre zu sehr fesselt, als dass Lesende auf andere Gedanken kommen könnten.
Als Dschudes einzige Hose endgültig den letzten Faden verliert, gibt es nur eine einzige Lösung – eine neue klauen. Denn für eine Alternative fehlen dem jungen Mann weder Mittel noch Möglichkeiten.
So lebt es sich im Tbilissi Ende der 1960er Jahre: Wer Geld hat, hat Macht – und wer mittellos ist, muss sich auf denjenigen Wegen durchsetzen, die ihm angeboten werden.
Demnach steht für Dschude, als er in einen brutalen Tötungsdelikt verwickelt und eingesperrt wird, außer Frage: Solange er Trokadero nicht verrät, wird er nicht nur am Leben bleiben, sondern sehr gemütliche zwanzig Jahre im Knast verbringen.
Doch nichts läuft, wie erhofft.
„“Gleich in aller Früh geh ich zur armenischen Kirche runter
und zünde eine Kerze an, damit alles gut geht.“
„Zünd auch eine in der georgischen an“, sagte ich.“(39)
Als der Siebzehnjährige auf die Bitte seines besten Kumpels Chaim Videokassetten unter dem Bett seiner Freundin Manuschaka versteckt, ist ihm weder die Tragweite seiner Handlungen noch die Verwicklung seines Schicksals mit den radikalen Umbrüchen in Georgien bewusst.
Doch kann Dschude seinem Pech nicht entgehen, als der kriminelle Trokadero ihn plötzlich ‚anfreundet‘, zu einer Übergabe mitnimmt und in eine Schießerei mit mehreren Opfern verwickelt – in der Dschude kein einziges Mal abdrückt, doch am Ende als der alleinige Täter dasteht.
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Es beginnt eine Dekaden überdauernde Odyssee: Dschude unterwirft sich dem Mikrokosmos Strafanstalt, findet Gemütlichkeiten, Allianzen und Routinen, entscheidet sich jedoch für einen Versuch, der Gefangenschaft zu entgehen – der ihn nur in schlimmere Schwierigkeiten bringt.
Die fesselnden Abenteuer, die der Protagonist durch- und überlebt, sind bahnbrechender Natur und erhöhen stets die Sympathie mit dem erfinderischen Jungen – denn so eisig die Bedingungen, die Menschen und die Witterung auch sein mögen, Dschude findet einen Weg vorbei an Schnee, Machenschaften und lebensgefährlicher Ambitionen anderer.
Und verliert dabei nie seinen Sinn für Humor.
„“Ich bin mit einem Tschetschenen aneinandergeraten, er hat mir die Eier abgeschnitten.“
[…]
„Hat er seine Frau umgebracht?“, fragte sie erregt.
Nein, […] er war ein zivilisierter Tschetschene,
der in Moskau an der Universität Völkerfreundschaft studiert hat.““(204)
Vorrangig ist die Figur von Dschude als ein echter Held zu orten, der im Lesenden ein hohes Maß an Sympathie auslöst. Eigentlich ist der Protagonist doch durchweg ein herzensguter Mensch: loyaler Freund, treuer Geliebter, ehrlicher Sohn und harter Arbeiter. Ebenso ist er resilient und künstlerisch begabt – ein seltenes Talent, welches ihm das Leben in Strafanstalten stets einfacher macht.
Auch wenn Dschude sich des Öfteren auf der Flucht befindet und sich gelegentlich am Hab und Gut anderer bedient – tut er dies doch lediglich aus Not und ist eigentlich nur ein Pechvogel, sollte mensch meinen.
Ein sympathischer Schelm also, der eben gegen das Leben und die Umstände zu kämpfen hat.
Es beginnt eine in Teilen fantastisch anmutende Hetzjagd – auf der Flucht vor dem Gesetz, in einem Rennen gegen die Zeit, im Streben nach Liebe. Der Roman führt Lesende durch karge Schneelandschaften, unbekannte Orte und scheinbar unendliche Weiten, in russische, sibirische und georgische Dörfer.
„Ich freute mich.
Niemals hätte ich mir damals vorstellen können,
was mich [spoiler] wegen noch erwartete.“(196)
Wer die Gegend kennt, wird sich umso mehr freuen: Menschen, die bereits in Tbilissi unterwegs waren oder mit der Geschichte Georgiens vertraut sind, finden sich in diesem Buch oft an bekannten Ecken wieder, schlendern an heute abgerissenen Denkmälern vorbei, treffen Freunde an Stadtwahrzeichen bekannten Orten.
Babluani skizziert topisch und psychologisch: Von den 1970er Jahren ausgehend wird die Landesgeschichte bis zur Rosenrevolution gezeigt und gesellschaftliche Umbrüche sowie deren Nachhall auf die Stadtbewohner werden ausgemalt.
Obwohl die historischen Etappen und Zäsuren für Lesende, die die Geschichte Georgiens nicht kennen, eher impliziter Natur sind, reduziert dies keineswegs den Leseeindruck. „Sonne, Mond und Kornfeld“ ist eine große zeitlose Geschichte, die ihren Ansprüchen in jeglicher Hinsicht gerecht wird.
Dass eine authentische Stadtkulisse die spannende Handlung mit facettenreichen Figuren ergänzt, ist nur ein weiterer Bonus. Selbstredend sehen und erkennen mit georgischer Geschichte bekannte Lesende mehr an dem Dargestellten. Doch die Wahl, gewisse historische Entwicklungen sehr vage darzustellen, stärkt die Universalität des Buchs und die Zugänglichkeit der Geschichte in meinen Augen nur.
Genauer: Viele soziokulturelle Kleinigkeiten lassen das ‚Georgische‘ in den Figuren lebendig werden. Spöttische Kommentare über bestimmte Nationalitäten oder Stämme (Tschuktschen, Tschetschenen et cetera), aufgrund von Diskrepanzen in religiösen Ritualen oder aus Aberglauben entstehender ernster Streit – oder ungeschriebene Regeln, denen jede Person offensichtlich streng folgt, die Dschude aber, so lieb ein Freund er dem Lesenden ist, immer wieder gerne erklärt.
Diese Nuancen und Anekdoten, Gewohnheiten und Besonderheiten werden in einer Bandbreite von Tönen und mit beeindruckender Dynamik gemalt, wären in meinen Augen – anhand von Kenntnissen erster Hand – jedoch für einige osteuropäische Länder übertragbar.
Ob hier also der ‚georgische Geist‘ alleinig und authentisch getroffen wurde, müsste eine bewandte Person unterschreiben – dass eine bestimmte historische und soziokulturelle Erzählkulisse vorliegt, steht außer Zweifel.
Keine der gebotenen Varianten mindert das Erzählte. Doch lässt Babluanis Erzählwelt auch als Lesende osteuropäischer Herkunft eben einiges wieder erkennen, was wohl auch in Tbilissi zum alttäglichen Tumult gehört.
Babluanis Renommee im Filmischen wird sowohl im extrinsischen als auch intrinsischen Sinne im Roman deutlich. Die zentralen Figurenpsychologien sind nuanciert und kontrastreich, essenzielle Dynamiken entwickeln sich durch die gesamte Geschichte weiter, keine Figur wird an entscheidenden Stellen außer Acht gelassen. Die finale Evolution von Dschude ist im Moment der Ereignisse unerwartet – doch retrospektiv absolut grandios.
Zudem nehmen die intensiven Kulissen- und Milieubeschreibungen in ihrer Vielfalt sowohl im Qualitativen als auch im Quantitativen stets mit. Wir sitzen neben Dschude auf dem Schlitten, im Waggon, im Wartezimmer, in der Zelle – und fiebern unermüdlich mit, dass der arme, unschuldige junge Mann nach dieser tragischen, fantastischen, lebenslangen Reise doch endlich zurück zu seinem guten Mädchen darf.
Dass sich in Dschude allerdings zum letzten Drittel des Romans tiefe und subtil in die Handlung eingewobene Schwarztöne graduell ausbreiten, ist eine sehr gekonnt erzählte Überraschung, die erst zum Schluss ihr volles Ausmaß erreicht.
Auf Genaueres wird an dieser Stelle aus Spoilergründen selbstverständlich nicht eingegangen. Doch sollten Lesende diesen Protagonisten an keinster Stelle unterschätzen.
Lediglich der Titel des Romans ergibt angesichts der stets kalten Landschaft wenig Sinn. In jeder anderen Hinsicht erzählt Temur Babluani auf unvergleichbare Art und Weise.
„Sonne, Mond und Kornfeld“ ist ein Buch, das mit einem unwiderstehlichen Sog von Beginn bis Ende in seinen Bann zieht, sodass es unmöglich ist, etwas anderes zu tun, als Kapitel nach Kapitel mit frischer Hoffnung ausgestattet zu verschlingen – um immer größerem Entsetzen zu begegnen.
Absolute Leseempfehlung!
Bibliografie:
Titel: Sonne, Mond und Kornfeld
Autor*in: Temur Babluani
546 Seiten | 28,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 24.10.2023
Verlag: Voland & Quist
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