Urlaub aus der Hölle. Terézia Mora: „Muna oder Die Hälfte des Lebens“

Terézia Moras neuester Roman „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ überzeugt mit einer starken, ambivalenten Protagonistin, deren Lebensweg durch diverse Länder und Momente der europäischen Gegenwart führt; beunruhigt und wühlt auf mit einer intensiven emotionalen Geschichte über toxische Beziehungen und dem weiblichen Kampf mit sich selbst – hin und her gerissen zwischen Ansprüchen, Konventionen und einer illusorischen Liebe, die eigentlich nichts als reine Abhängigkeit ist und lebensgefährliche Schmerzen verursacht.


© Luchterhand Verlag

Terézia Mora (* 1971 in Sopron, Ungarn) veröffentlichte bereits diverse Romane und erhielt für ihr Erzählwerk bisher den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Deutschen Buchpreis sowie den Georg-Büchner-Preis.

Überdies zählt Mora zu den renommiertesten Übersetzer*innen aus dem Ungarischen.

Terézia Moras neuester Roman „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ platzierte die Autorin zum zweiten Mal auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, den Mora im Jahr 2013 für den Roman „Das Ungeheuer“ erhielt.

„Muna“ ist einerseits ein fesselnder Entwicklungsroman; eine prekäre Geschichte über zerstörerische, einseitige, toxische Liebe – und sogleich ein beeindruckendes Panorama der europäischen kulturellen Landschaft.


Mora hat ihre Erzählwelt mit zahlreichen vielfältigen Figurendynamiken und Handlungsorten ausgestattet, die die Handlung mitunter womöglich sogar etwas zu kunterbunt werden lassen würden – wenn nicht durchgehend deutlich bliebe, wo Prioritäten und Fokus der Handlung liegen.

Eine weibliche Protagonistin, deren Leben bereits seit ihrer frühesten Kindheit und dem Tod des Vaters daraus besteht, sich nebst Trauerarbeit aus den Trümmern ihrer emotional unstabilen Mutter eine eigene Identität aufzubauen; die sich nach einer tragenden Säule in ihrem Leben sehnt und von gesunden zwischenmenschlichen Beziehungen ein milde gesagt vages Bild erhalten hat.

Munas Werdegang ist ebenso eine fesselnde Katastrophe voller törichter Fehler, kindischer Dummheiten und gelernter emotionaler Manipulation.

Und doch fesselt diese Geschichte bis zum Ende.



Ich hasste sie so sehr in diesem Moment.

Kannst du nicht sterben? Hier, stilvoll, im Theater?
Von der Galerie stürzen, aus dem Schnürboden?(16)


Die Handlung steigt in Munas Leben ein, als sie knapp achtzehn Jahre alt ist und kurz vor dem Abitur steht – und behandelt, wie versprochen, die erste Hälfte ihres Lebens. Mora bestückt den Roman mit einem zweiten Untertitel „die weibliche Variante“, welcher interpretativ auf einen Folgeroman schließen lässt.

Der Abschluss der Handlung, auf den an dieser Stelle selbstverständlich nicht eingegangen wird, ließe ebenso auf einen solchen hoffen.

Das Gleichgewicht zwischen den Schilderungen einer enorm selbstbezogenen Protagonistin und der Sichtbarkeit ihrer komplexen Hintergrundsysteme ist zunächst dasjenige, was die Handlung so spannend und vielschichtig gestaltet.


Mora schildert zwar vorrangig das Seelenleben eines unstabilen jungen Mädchens, danach einer jungen Frau, die sich nach Liebe und Zugehörigkeit sehnt und im Namen desselben langsam selbst zerstückelt und zerbröselt – doch lebt diese Frau in aufregenden kreativen Welten in europäischen Großstädten und ist Teil eines beeindruckenden kulturellen Spektrums, welches ebenso im Laufe der Geschichte zur Geltung kommt: kleine Berliner Verlage, akademische Forschungsprojekte sowohl in Deutschland als auch Österreich und der Schweiz; Fotoreisen nach Island.

Einige Erkennungswerte für Eingeweihte sind vorhanden, andere Aspekte muten hingegen unrealistischer an. Mit dem Anschein nach Leichtigkeit bewegen die Figuren sich durch Städte und Welten – und obwohl sie es mit dem Essen eher spärlich halten, lässt sich Geld für ein Flugticket doch immer auftreiben, wenn der Geliebte mal wieder in einer anderen Stadt verschwunden ist.

Naja. Fällt wirklich nur sehr kritischen Augen auf den zweiten Blick auf.


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Die meist von Extremen getragene Beziehung zur Mutter umrahmt die gesamte Handlung, wie sie auch Munas Leben stets prägt: von der Exposition, einer äußerst gefühlsdichten Episode mit Galgenhumor und Verzweiflung bestückt, bis hin zum Schluss der Geschichte, in der sich die Figurendynamik um einiges geändert hat, spielt diese Beziehung die argumentativ wichtigste Rolle im gesamten Roman.

Da Lesende Munas Leben jedoch durch ihre eigenen Augen sehen, wird der Einfluss der Mutter stets im Hintergrund gehalten – so offensichtlich er dennoch ist.


Ich trinke nie. Ich bin höchstens betrunken von Extremen.

Die Frau bei den Psychologen hat mich mit der
allergrößten Freundlichkeit wie eine Kakerlake behandelt,

Paloma hingegen, als wäre ich
eine gloriose Erscheinung […]
.“(336)


Muna verhält, trägt und kleidet sich nach dem Vorbild und Erziehung ihrer Mutter, überlegt stets, wie sie sich kommuniziert und mitteilt – so vieles von sich bedächtig verbergend.

Bis das Spiel des Lebens ihr irgendwann vollständig entgleist und der Weg zurück zu Magnus, ihrer großen Liebe, gesperrt wird. Eigentlich etwas Gutes – für Muna jedoch unausstehlich, emotional tödlich.

Dabei bemerkt Muna selbst stellenweise die verheerende Natur ihrer unerwiderten Hingabe, folgert sie doch, dass „jemanden zu lieben ein Urlaub aus der Hölle“ (222) sei.

Der Text spielt des Öfteren am Rande des Wahnsinns – doch hält Mora so authentisch und mit exzellenter Kontrolle an der Ich-Perspektive und deren erzählerischen Grenzen fest. sich selbst glaubend, dass lediglich in wenigen Passagen bemerkbar wird, wie schlimm es eigentlich um Muna steht.

So gut hat sie sich selbst – und sicherlich auch einige Lesende – überzeugt. Bis dann plötzlich obskure Träume beginnen, an ihrem schon gefährlich fragilen Gemüt zu nagen:


Und wie ich so an der Wand herumkrieche, begreife ich,
dass ich keine Frau bin, sondern ein Wesen, das sich
auf diese Weise einen neuen Herrn sucht.
[…]
Er hat sein Fenster absichtlich offen gelassen.(238)


Traumsequenzen, denen eine intensive Essenz von Milan Kundera innewohnt, die unerwartet heftig ins Herz schneiden und auf schmerzvolle Art und Weise klarstellen, wie einseitig die Beziehung ist, der Muna seit Jahren nachrennt, auf die eigene Würde und das eigene Wohlsein verzichtend – lassen die Handlung, die Protagonistin, das Gemüt von Muna, nach und nach ins Extreme gleiten, bis hin zur vollständigen Entgleisung.


Terézia Moras Roman „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ ist ein faszinierendes Portrait von menschlichen Untergründen, eine hervorragend skizzierte Collage der fürchterlichsten Facetten und Fragmenten dessen, was als Liebe wahrgenommen werden kann – und eine meisterhafte psychologische Studie der weiblichen Verzweiflung.

Wer sich für düstere Liebesgeschichten, vielschichtige Entwicklungsromane, Obduktionen der Weiblichkeit und für Kunderaeske Erzählwelten interessiert, wird hier ein fesselndes Leseerlebnis vorfinden.

Hier geht’s zur Leseprobe.

Bibliografie:

Titel: Muna oder Die Hälfte des Lebens
Autor*in: Terézia Mora

448 Seiten | 0,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 30.08.2023
Verlag: Luchterhand
ISBN: 978-3-630-87496-8

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