Lina Nordquist fasziniert und entsetzt gewaltig in ihrem Roman „Mein Herz ist eine Krähe“. Düstere Schicksale, geschildert von zwei Erzählerinnenstimmen, offenbaren nach und nach eine grausame Familiengeschichte voller Verluste und Traumata. Zeitgleich entfaltet das Buch eine so unwiderstehliche Sogwirkung, dass es aus der Hand zu legen geradezu unmöglich wird, so heftig die Lektüre auch sei.
Nordquist hält ihre Leser*innen ab Seite eins auf Zehenspitzen – und die Spannung lässt bis zum Schluss nicht nach.
Denn noch im letzten Moment hält die Autorin eine schreckliche Kehrtwendung bereit.

Die schwedische Autorin Lina Nordquist ist Schriftstellerin, außerordentliche Professorin für Physiologie, Diabetesforscherin – und seit 2018 Mitglied des schwedischen Parlaments.
Nordquists Debütroman „Mein Herz ist eine Krähe“, übersetzt aus dem Schwedischen von Stefan Pluschkat, wurde in Schweden als Buch des Jahres 2022 ausgezeichnet.
Meines Erachtens mehr als zu Recht – denn diese düstere Lektüre fesselt, erschreckt, reißt mit und erschüttert emotional.
Dies vom bitteren Anfang bis zum bitteren Ende der Geschichte.
Die Protagonistinnen Unni und Kåra haben wesentlich mehr gemeinsam als schreckliche Geheimnisse – mehr als die Angst, dass ihre prekäre Vergangenheit ihnen irgendwann auf die Schliche kommt.
Beide Frauen müssen aus ihrer Heimat fliehen, da sie von ihrem familiären und sozialen Umfeld für unpässlich befunden worden sind.
Beide Frauen machen sich in bestimmten Momenten ihres Lebens in schlimmstmöglicher Hinsicht strafbar.
Bei Unni verhalten sich die Gründe, Umstände und Risiken um die Flucht aus Norwegen nach Hälsingland allerdings wesentlich heftiger als bei Kåra. Dies hängt vorrangig an den sozialen Geflechten um die nicht existierenden Rechte der Frau im Jahr 1898.
Doch befindet sich auch die über 70 Jahre später lebende Kåra in einem Vergleichsweise gar nicht so divergierendem Verhältnis zum biologischen Vater ihres Sohnes.
„Der Tod ist eine komische Sache. Ich spüre ihn
seit Jahrzehnten. Ein Mensch lebt. Atmet. Spricht.
Dann verändert er sich, verschwindet. Hört auf zu existieren.
Wie soll man sich je daran gewöhnen?„(56)
Auch Kåra fühlt sich in ihrem eigenen Zuhause gefangen. Doch verläuft Unnis Leben ab einem gewissen fürchterlichen Ereignis wie ein immerwährender Alptraum, der die glücklichen Momente ersticken und beschmutzen möchte.
Obwohl Nordquists Erzählwelt mit Tod, Gewalt, Pech, Elend und Hunger gesättigt ist, weiß die Autorin die schrecklichen Erlebnisse von Unni mit Häppchen an Informationen zu übermitteln und mit der Suche von Kåra nach Stücken ihrer Vergangenheit zu spicken, sodass Spannung und Neugier die graduell intensiver werdende Wirkung des wachsenden Grauens dennoch ausgleichen.
Eine Geschichte mit über 400 Seiten im Tempo angemessen zu takten wäre grundlegend als lobenswert hervorzuheben. Die Tatsache, dass es sich hier um einen Debütroman handelt, erhöht die Bewunderung für das erzählerische Können der Autorin umso mehr.
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An keiner Stelle versucht dieser Roman ein Krimi zu sein: Obwohl die Handlung mit der Beobachtung einer Leiche beginnt und mit einer Beerdigung endet, erzählt Nordquist eine sich zum Schluss linear offenbarende Familiengeschichte über die unglaubliche Resilienz von Frauen, die sich selbst für ihre Liebe Opfern.
Die Leben von Unni und Kåra sind nicht nebeneinanderzustellen, da eine Figur die Umstände der anderen in großen Teilen bewirkt hat – und doch offenbaren sich klare Parallelen aufgrund der Opfer, die jede Mutter für ihre Kinder bringt, der schicksalhaften Begegnungen, die zu verheerenden Konsequenzen führen und der Stigmatisierung von allgemeinen Abweichungen von den sozial anerkannten Normen und Konventionen.
Zudem meinen beide Frauen, nachdem sie die ihnen vom Leben zugespielten Umstände umgehen, ein frisches und neues Glück gefunden zu haben, unabhängig von ihrer Vergangenheit.
Nichts wäre der Realität ferner.
„Wut und Verzweiflung stiegen in mir auf,
weil das alles war,
weil das hier mein Leben war.“(215)
Auch wenn bestimmte Narrativen sich für minimale Augenblicke wiederholen – meist aufgrund der vom ländlichen Leben bestimmten natürlichen Zyklen, die Unni durchlebt –, bewegt Nordquist ihre Handlung in einem hervorragend bemessenen Takt und Tempo fort.
Eine gelungene Balance, die auch in der extrem düsteren Grundstimmung der Erzählung deutlich wird.
Mit steigender Spannung, tiefer Trauer, schwellendem Unglück und zunehmenden Episoden der absoluten Verzweiflung spielend, bietet die immer dunkler werdende Farb- und Emotionspalette dennoch auch ein ausgleichendes Gegenstück.
Dieses wird versinnbildlicht in der Stille und Ruhe des Waldes, der Unnis Haus umgibt, der in jedem neuen Frühling nach Monaten des unerträglichen Hungers wieder für Essen und Wärme sorgt, als Kulisse für die Liebe der Familienmitglieder schöne Erinnerungen einrahmt – und zeitgleich ein grausamer, furchtbarer Ort des Sterbens wird.
Wie prominent der Wald als Kulisse des Elends gilt, obwohl die Natur zeitgleich auch ein Ort der Zuflucht und der Liebe bleibt – durchgehend intensive Kontraste, die in diesem Buch konstruiert werden, beeindrucken, entsetzen, bewegen.
„Ich hatte alles getan, um nicht nach Norrfly zu kommen –
aber jetzt saß ich in meinem ganz eigenen Irrenhaus fest.“(255)
Der Originaltitel „Dit du går, följer jag“, in direkter Übersetzung „Wohin du gehst, ich folge dir“, steht zwar im direkteren Zusammenhang mit dem Inhalt der Geschichte – dieser Satz wird mehrmals wiederholt und begründet tatsächlich die gesamte Handlung. Doch vermittelt die Übersetzung sehr gelungen die düstere Grundstimmung des Romans und webt Beginn und Mitte der Handlung mit dem Schluss zusammen, weswegen ich die kreative Freiheit bei der Titelübersetzung als positiv interpretieren würde.
Ähnlich verhielt es sich beispielsweise auch im Roman der vor Kurzem vorgestellten norwegischen Autorin Vigdis Hjorth, deren enorm bewegendes Buch „Die Wahrheiten meiner Mutter“ im Original so viel heißt wie „Ist Mutter tot?“ – und auf einen noch härteren Tobak im Inhalt hinweist als die etwas subtilere Übersetzung.
Im Fall Nordquist wurde der Titel argumentativ etwas präziser und dynamischer formuliert, da das Original meines Erachtens eher seicht anmutet.
In dieser Hinsicht halte ich die Übersetzung sogar für gelungener, da hier wirklich ausgesprochen harter Tobak vorliegt.
Wer sich also zur authentisch-grausamen, düster-pittoresken Schilderung eines schwedischen Stilllebens voller fesselnder Geheimnisse und entsetzlicher Offenbarungen hingezogen fühlt – und vermehrte Darstellungen von emotionaler und körperlicher Gewalt sowie Episoden des körperlichen Missbrauchs verkraften kann – wird hier eine intensive Familiengeschichte mit enormer Sogwirkung vorfinden.
Bibliografie:
Titel: Mein Herz ist eine Krähe
Originaltitel: Dit du går, följer jag
Autor*in: Lina Nordquist
Übs.*in: Stefan Pluschkat
464 Seiten | 25,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 27.09.2023
Verlag: Diogenes
ISBN: 978-3-257-07261-7
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