Mit Dodos im Nomadland. Steffi Hobuß, Simone Jung und Sven Kramer (Hg.): „Öffentlichkeiten zwischen Fakt und Fiktion. Zur Wissensproduktion in Wissenschaft, Medien, Künsten“

Der Sammelband „Öffentlichkeiten zwischen Fakt und Fiktion. Zur Wissensproduktion in Wissenschaft, Medien, Künsten“ hakt an einer beeindruckenden Bandbreite an brennenden Diskursen an, wie bereits der Titel des Sachbuchs verspricht.

Beiträge in puncto allgemeiner Medienkompetenz, zu wichtigen Zäsuren im öffentlichen Selbstverständnis von Wirklichkeit und Wahrnehmung, die Verantwortung überliefernder Medien und den Verständnissen von Wahrheit und Wissen – dies sind nur einige der behandelten Themenkomplexen, die in diesem hochgradig aktuellen Buch obduziert werden.


© Verbrecher Verlag

Der von den Lüneburger Kulturwissenschaftler*innen Steffi Hobuß, Simone Jung und Sven Kramer herausgegebene Sammelband „Öffentlichkeiten zwischen Fakt und Fiktion. Zur Wissensproduktion in Wissenschaft, Medien, Künsten“ analysiert eine beeindruckende Bandbreite an aktuellsten kulturwissenschaftlichen Diskursen.

Sowohl Philosoph*innen und Künstler*innen, Regisseure und Filmkritiker*innen als auch Schriftsteller*innen und Journalist*innen beteiligten sich an der Publikation, die aus dem Forschungsprojekt „Der Kampf um die öffentliche Meinung zwischen Fakt und Fiktion“ an der Leuphana Universität Lüneburg hervorgegangen ist.

In elf Beiträgen sinnieren die Verfasser*innen über das etymologische, kulturhistorische, moralische sowie künstlerische Wesen von Fakt und Fiktion, setzen sich mit der Geschichte und der Gefahr von Fakes auseinander, obduzieren die Rolle und Verantwortung von Literatur, Film und Theater in der Übermittlung von Wahrheiten – und diskutieren über die Validität von Museen und Archiven im postkolonialistischen Gesellschaftsbild.

Angesichts der graduellen Regression gesellschaftlicher Diskurskultur und starken Polarisierung sowie Bubble-Bildung im Meinungshorizont gewinnen die behandelten Themen und Probleme meines Erachtens zunehmend an Aktualität und Bedeutung.

Doch die Beiträge gehen weit über den Horizont des soeben aufgelisteten hinaus – im Folgenden wird lediglich eine Auswahl der durchgehend faszinierenden Themen vorgestellt, die etwas von meinem persönlichen Fokus geprägt wurde.



Der Mensch […] folgt eher seinen Eindrücken
als rationalen Schlussfolgerungen. Es ist nicht genug,
ihm die Wahrheit zu zeigen;

der Hauptpunkt ist, ihn für sie zu begeistern.“(21)


In zahlreichen der Artikel – hier „Wahrheit oder Verlässlichkeit?“ von Alfred Nordmann  – wird erörtert, wie die Wahrheit nicht für sich selbst spricht und dass die Wissenschaft, indem sie alle Dinge berechenbar macht, eine Rationalisierung der Welt bedeute.

Wissenschaftskritische und wissenschaftshistorische Perspektiven zeichnet diverse Beiträge des vielfältigen Sammelbandes aus. Ein kritischer Umgang mit der eigenen Disziplin nebst einer analytischen Auseinandersetzung mit diskursrelevanten Entwicklungen und ein sehr hoher Objektivitätsanspruch liegt den meisten Beiträgen zugrunde.

(Von diesem Lob ausgeschlossen sind Beiträge in essayistischer Manier, die sich jedoch als solche bekennen und entsprechend andere Ansprüche erheben.)

So ist es wissenschaftlich versierten Lesenden beispielsweise möglich mit – hier – einer Bandbreite von Mirabeau bis Weber, drei Jahrhunderte übergreifend, über die Vertrauenswürdigkeit von Wissenschaften zu grübeln, und aus den gebotenen Blickwinkeln zu folgern, inwiefern diese Theorien aktuelle Diskurse beeinflussen können und beeinflusst haben – beispielsweise das toxische Twitterversum zum Thema Impfungen.


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Des Weiteren wird in mehreren Beiträgen über das postfaktische Zeitalter und die Zäsuren Twitter plus Trump geschrieben, es werden die Wege und Strategien des „Irrelevantwerdens von Wahrheit“ (47) aufgezeichnet und die Gefahren einer Gesellschaft deutlich gemacht, die fundiertem Wissen und faktenbasierter Wahrheit weder Relevanz noch Macht zuschreibt.


Überfordert von Fülle und Undeutigkeit
der im Netz erhältlichen Informationen,
werden kognitive Mechanismen, die eigentlich eine
effiziente Informationsverarbeitung sicherstellen sollen,
zu Quellen kognitiver Behinderung.“(49)


In stringenter, doch dringlicher Manier werden die immanenten Gefahren einer „Retribalisierung“ (56) aufgrund des Verständnisses von Wissen und Wahrheit aufgezeigt, die zur Notwendigkeit der individuellen Positionierung und der Immanenz eines kollektiven Kampfes überführen.

Insbesondere angesichts des aktuellen Aufstiegs der rechtsextremen, menschenverachtenden Hasspartei, die es meines Erachtens gemeinsam zu bekämpfen gilt, erkenne ich persönlich eine brennende Notwendigkeit der eben geschilderten Diskurse und die Wichtigkeit der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit denselben.


Sofern mögen Besuchende bitte auch stets beachten, dass es sich bei diesem Blog um einen queer-, color-, diversitäts- und humanfreundlichen Ort handelt, der sich gegen Rassismus und gegen Antisemitismus positioniert, wie der entsprechende rote Button „Buchblogger gegen Rechts“ indiziert.

Da wir uns in einem „hyperfaktischen Zeitalter“ (61) befinden, in welchem die Dichte an auf uns zukommenden Informationen und visuellen Impulsen ständig überwältigt, sind Gefühle der Ohnmacht kollektive Erscheinungen. Nun gilt es, einen entsprechenden Umgang mit diesen Phänomenen zu finden und die Medienkompetenz den Entwicklungen jüngster Zeit anzupassen.

Kontextualisierungen, die den persönlichen Wissenshorizont erweitern, überraschen in den respektiven Beiträgen immer wieder, so logisch sie doch klingen mögen. So hebt Jenni Brichzin in „Epistemische Verantwortung?“ hervor, mit welchem Nachhall die Erfindung des Buchdrucks geschah – welche ebenso als Medienrevolution zu bezeichnen und stets zu erinnern ist.

Das Beispiel Gutenberg stellte für mich ein Schmunzeln erregendes und gleichzeitig sehr deutliches Warnzeichen der eigenen Blindheit dar:

Ironischerweise wird gerade diese Zäsur Buchliebhabenden unter dem Slogan „Gutenberg für alle“ auf jeder Frankfurter Buchmesse nämlich täglich vor Augen geführt – die Internationale Gutenberg-Gesellschaft demonstriert an einem entsprechenden Stand täglich die Historie und Konstruktion der Presse, diese dürfen Besuchende sogar selbst nutzen, und „aktiv und kreativ“ werden.


Und dennoch reicht das handelsübliche kulturhistorische Selbstverständnis meistens nicht weit genug, als dass aktuelle Prozesse hinreichend analysiert werden können, deren soziopolitische Wurzeln oder soziokulturelle Vorgänger nicht im 20. Jahrhundert, sondern mehrere Jahrhunderte in der Vergangenheit liegen – was argumentativ meistens der Fall ist.

Dass die Geschichte der Buchbranche stets zu diesem Moment zu denken ist, mag nicht nur Vertretenden einer jüngeren Generation entfallen. Für eine wissenschaftskritische Auseinandersetzung ist diese Zäsur allerdings weiterhin essenziell.

In puncto wissenschaftshistorische Reichweite und perspektivische Diversität sind zahlreiche der Artikel als enorm erhellend hervorzuheben.


Daraus folgt […], dass ein besonders großes
Schwergewicht darauf liegt, was wir mit intersubjektiv
erklärbaren Gründen als Wahrheit gelten lassen.“(95)


Unter anderem der Nietzscheanische Perspektivismus wird thematisiert, um zu erläutern, wie bestimmte Interpretationen Theorien für sich instrumentalisieren und ohne Kontexte anbieten, gewisse Aspekte bis zur vollständigen Umkehr ihrer ursprünglichen Bedeutung verzerren.

Die intersubjektive Erklärbarkeit von Wahrheitsansprüchen sowie die Kritisierbarkeit derjenigen ‚Wahrheiten‘, die offensichtlich subjektiv motiviert sind, erläutert Steffi Hobuß in „Schwierige Wahrheitsbezüge“ – und bietet transparente Strategien, die plausibel, prüfbar und anwendbar anmuten.


Des Weiteren werden diverse literaturwissenschaftliche Theorien, Wirkungsräume und Termini analysiert: Es wird über die Grenzen medialer Unmittelbarkeit, den Wahrheits- und Wirklichkeitsgehalt klar fiktionaler Texte, die Überprüfbarkeit der respektiven Faktizität sowie die Intention des Spiels geschrieben und reflektiert.

Ebenso wird über die knifflige Natur des Factchecking und den prekären Umgang von Publikationen, Lektor*innen, Verlagen und Individuen mit eingereichten Recherchen sinniert: Kathrin Passig obduziert in „Unrecht haben“ kritisch die schöne und bequeme „Illusion des Rechthabens“ (161) und die Unmöglichkeit einer akkuraten Recherche.

(Man denke an dieser Stelle wohlwollend und doch zwiegespalten an YouTuber*innen, die bei Gefolgschaften von beträchtlicher Größe über angestellte Factchecker*innen sprechen und bei kleineren eine-Person-Projekten ihre Quellen belegen – an sich vorbildlich und wichtig und richtig, doch wie wasserdicht ist dieses Checking wirklich? Ist es hier die technowissenschaftliche Verzauberung, die der im Video parasozial liebgewonnenen Institution Individuum sofort Vertrauen schenkt, während im Sammelband die Quellen aufs genaueste überprüft werden?)


Es gäbe noch sehr viel auszupacken. Nicht jedes der berührten Themen wird für jeden Lesenden die Resonanz der Vorgänger und Nachfolger erzielen. In diesem Beitrag wurden bei Weitem nicht alle Teilaspekte des reichhaltigen Sammelsuriums gebührend berührt.

Es geht auch kulturkritisch um „Nomadland“, postkolonialistisch um Dodos und soziopsychologisch um Donald Trump. Doch überlasse ich die entsprechenden Texte der eigenständigen Entdeckung.


So ist dieser Sammelband auch zu schmökern, zu verdauen, zu reflektieren: Die Lektüre von „Öffentlichkeiten zwischen Fakt und Fiktion“ wird bei jedem Lesenden gemäß der individuellen wissenschaftlichen und medialen Sensibilisierung resonieren.

Fest steht jedoch, dass Menschen, die Medien konsumieren – und das sind alle Menschen – für einen dezidierten Umgang mit denselben genau über diejenigen Themen nachdenken müssen, die Hobuß, Jung, Kramer und die restlichen Verfasser*innen dieses Sachbuchs so prägnant und tiefgehend ansprechen.

Daher: unbedingt lesen!

Hier geht’s zur Leseprobe.

Bibliografie:

Titel: Öffentlichkeiten zwischen Fakt und Fiktion. Zur Wissensproduktion in Wissenschaft, Medien, Künsten
Autor*in:

240 Seiten | 24,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 04.12.2023
Verlag: Verbrecher Verlag

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