Perspektive. Frankfurter Buchmesse 2023: Eine essenzielle Polarisierung

In der neuen Rubrik „Perspektive“ möchte ich etwas persönlicher beleuchtete, subjektiv schattierte Gedanken zu tagesaktuellen Themen zur mich umgebenden und von mir rezipierten literarischen Landschaft formulieren.

Im heutigen Beitrag thematisiere ich meinen Besuch auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, nehme eine kritische Betrachtung zur allgemeinen Wahrnehmung aktueller Brennpunkte vor und formuliere diese als Melange mit persönlichen Eindrücken als Fachbesucherin. Zu diesen gehören Gespräche mit anderen Besuchenden, Autor*innen sowie Verleger*innen, meine Teilnahme am Fachbesucherprogramm sowohl im Rahmen des deutschsprachigen als auch des internationalen Veranstaltungsspektrums – und meine Teilnahme an der Pressekonferenz mit dem Friedenspreisträger Salman Rushdie.

Ein besonderes Jubiläumsjahr für die Frankfurter Buchmesse – dennoch mindert die Freude über das Bestehen der größten Buchmesse der Welt nicht die bestehende Notwendigkeit zur kritischen Auseinandersetzung mit der Institution. © Sandra Falke

Ich sah ihn am Eingang des Pavillons und dachte mir: Okay, jetzt müssen wir alle sterben.“


Besuchen oder nicht besuchen? Teilnahme oder Boykott? Protest oder Dialog?

Aussagen und Gedanken zu „ich fahre dieses Jahr nicht, weil…“ schweben jährlich in meiner Peripherie – immer erst einige Tage vor dem Beginn einer jeden Buchmesse. Protestgruppen mit divergierender Intensität bestehen aus: Individuen, die sich mit finanziellen, emotionalen oder logistischen Hürden nicht auseinandersetzen wollen oder können; Individuen, die auf der Buchmesse konkrete Individuen, Gruppen und Verlage boykottieren; Individuen, die aufgrund der Assoziation der Buchmesse mit – auch meines Erachtens nicht dorthin gehörenden – hinterwäldlerischen, beschämenden, rechtsradikalen Ideologien nacheifernden Verlagen und Individuen die Buchmesse an sich grundlegend ignorieren.

Anhand der oben hervorgehobenen zitierten Schilderung eines jüdischen Autors zu seinen diesjährigen Erfahrungen auf einer Veranstaltung sollte es klar sein, warum diejenigen, die soeben nicht genannt wurden, fernbleiben wollen. Sie sehen sich einer direkten Lebensgefahr ausgesetzt.

(Schlussendlich missverständlich als lebensgefährlich wahrgenommenen, da er ein Cosplay-Kostüm mit Waffe aus der Ferne gesichtet hatte. Hätte er bei echter Gefahr fliehen können? – retrospektiv dennoch nicht minder triggernd!)


Und doch finden diese zahlreichen Individuen Resilienz, Kraft und einen Grund, ihren Protest und ihre Position auch persönlich zu repräsentieren – unter anderen auch Salman Rushdie, der auf der Pressekonferenz am Messefreitag erzählte, wie Ärzte ihm im Laufe einer mehr als achtstündigen Operation das Leben retteten, nachdem er auf einer Literaturveranstaltung in New York mit einem Messer angegriffen wurde.

Friedenspreisträger Salman Rushdie auf der Frankfurter Buchmesse 2023. © Sandra Falke

Eine Ikone, ein Leuchtturm und eine zutiefst beeindruckende Persönlichkeit.

Gründe und Inspiration zur Teilnahme an der Frankfurter Buchmesse gäbe es vielerlei hervorzuheben, in gleichen Mengen auch contra Messe. Nach Mut und Ethos sollten wir aber genau dort suchen – bei denjenigen Individuen, die den brennenden Diskursen unserer Gegenwart persönlich so nahe stehen, dass sie sich eigentlich ständig in direkter Gefahr befinden und in Extremfällen die Gesprächspartner*innen durch einen Metalldetektor gelotst werden müssen, „nur“ um ihnen ein paar Fragen zu stellen.

Denn gerade aus diesen Perspektiven, aus diesen Geschichten, aus dieser Resilienz können wir lernen.



Wo liegt der individuelle Nutzen einer aktiven Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen mit unsympathischen Bestandteilen? Aktive Wähler*innen werden an dieser Stelle sicherlich am ehesten verstehen, dass einzelne Stimmen zählen. Somit ist das Plädoyer für eine Teilnahme an der Buchmesse eigentlich bereits abgeschlossen: Es ist wichtig, an großen Dialogen mit breiter gesellschaftlicher Resonanz teilzunehmen, um die eigene Stimme in diese Resonanz einzubringen, um die eigenen Präferenzen und Anlehnungen erkenntlich zu machen – um andere dazu zu ermutigen, ihre Unterstützung für marginalisierte Gruppen, für BiPoc-Autor*innen, für queere Menschen und Verlage, zu zeigen.

Nicht nur ist dies auf der Frankfurter – und Leipziger – Buchmesse in Form der Präsenz, sondern auch in Form der finanziellen Unterstützung möglich. Auch als Otto*normalverbrauchender waren diverse Veranstaltungen bei PEN Berlin, auf der Leseinsel der unabhängigen Verlage, im internationalen Übersetzer*innenzentrum und an vielen weiteren Orten besuchbar, zahlreiche Materialien einsehbar, Vertretende verfügbar – und besagte Individuen persönlich vor Ort, um mit ihren Unterstützer*innen einen aktiven Dialog aufrecht zu erhalten.


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„Ein kleines Land darf ausschließlich infolge von außergewöhnlichen Ereignissen mit großflächigem internationalen Interesse an seiner Kultur und Literatur rechnen. Ich meine damit selbstverständlich negative, verheerende Ereignisse, wie Krieg.“


Nicht nur Dialoge um aktuelle Brennpunkte wie der imperative Kampf gegen den Antisemitismus, der komplexe Dialog zwischen Israel und Palästina und die Auswirkungen der horrenden Terroranschläge der Hamas standen auf der Frankfurter Buchmesse im Vordergrund.

Wie bereits auf dem internationalen Literaturfestival Berlin über Literatur zu Kriegszeiten sowie die explizite Verarbeitung des russischen Angriffskrieges in der Ukraine in literarischen Formen gesprochen wurde, so ging es auch im Slowenien-Pavillon um das Thema Literatur zu Kriegszeiten – doch wurde in den hiesigen Panels eine weitergreifende und internationalere Perspektive angestrebt, eine Vervielfältigung der ukrainischen Sicht mit anderen osteuropäischen Ländern gesucht.

Die ukrainische Dichterin, Essayistin und Autorin Oksana Zabuzhko sprach leidenschaftlich über die Rolle der ukrainischen Literatur und des gegenwärtigen Booms ukrainischer Übersetzungen. Wie aus ihrer oben als Zitat hervorgehobenen Bemerkung bereits sichtbar wird, so kommentierte die Autorin auch selbstreflexiv, sie müsse sich als Ukrainerin an dieser Stelle sicherlich nicht feinfühlig formulieren.

Gut so.

Drago Jančar, Oksana Zabuzhko und Georgi Gospodinov im Slowenien-Pavillon. © Sandra Falke

In diesem Panel mit ukrainischer, bulgarischer, slowenischer und serbischer Perspektive sinnierten Autor*innen, unter anderem der slowenische Stargast der Frankfurter Buchmesse Drago Jančar – der auch hautnah ein wunderbarer Geschichtenerzähler ist – darüber, wie slawische Literaturen einander verfremdet sind und unter welchen Bedingungen sie erneut zueinander finden könnten.

Ihre respektiven Reflexionen zu historischen Themen, über das von Kriegen ausgelöste kollektive Leid, ihre individuellen Beobachtungen zu osteuropäischen sowie Balkanliteraturen erlaubten mir, meine eigene Identität als baltische Person und Lesende nochmal neu zu interpretieren: Es sind gewiss große Teile der Russischen und der Sowjetischen Kultur als Schnittflächen im estnischen kulturhistorischen Spektrum verblieben, gerade wenn diejenigen großen Literaten gelesen und besprochen werden, die zu den entsprechenden Zeiten lebten und schrieben.

Westliche und nördliche Einflüsse sind aus der estnischen Literaturgeschichte nicht wegzudenken – doch ist es klar, dass unsere literarische Identität sich in vielerlei Hinsicht mit denjenigen Autor*innen und kulturhistorischen Reflexionen deckt, die auf dem Podium verbalisiert worden sind.


Hierin verbirgt sich eine weitere Begründung dessen, dass die Frankfurter Buchmesse eines der besuchenswertesten Ereignisse des literarischen Jahres ist: Lesende sollten sich zwar als autonome Individuen, doch stets als Teil eines Kollektivs mit sozialen, kulturellen, historischen Wurzeln, Wechselwirkungen und Nachhall begreifen. Dies gilt, egal ob mensch sich nun als Berliner*in, Hesse*in, Deutsche*r, Europäer*in oder mit anderer nationaler, kultureller und/oder geographischer Zugehörigkeit identifiziert und/oder zuordnet.

Eine introspektive und reflexive Lektüre von Literatur ist für die vollwertige Rezeption derselben essenziell – mithilfe der Stimmen, Gedanken und Ideen von gegenwärtigen Autor*innen und denjenigen Individuen, die diese Stimmen und Gedanken übersetzen, verlegen und verbreiten, kann diese Rezeption erreicht und gepflegt werden. Auf der Frankfurter (und Leipziger) Buchmesse sind offene Dialoge mit allen Teilnehmenden des literarischen Universums möglich und ermutigt, weswegen der Besuch sich auch aufgrund dieser Argumente mehr als lohnt.

Und wenn diese Reflexionen schlussendlich zu weiteren Erkenntnissen über die historische, die soziokulturelle, die individuelle Bedeutung von Literatur führen – umso besser.

Die Frankfurter Buchmesse ist eine Chance für Besuchende, sich als Teil des literarischen Universums zu fühlen, an aktuellen Diskursen hautnah dabei zu sein, ihren literarischen Horizont zu erweitern – und die Lieblingsverlage direkt und unmittelbar kennenzulernen und zu unterstützen. Sich im wahrsten Sinne des Wortes innerhalb einer Bewegung mit zu bewegen, und je nach Wunsch und Ethos, sich auch gegen den Strom zu bewegen.

Auf der Frankfurter Buchmesse 2022 habe ich einigen Verlagen Fragen gestellt, über die sie mit Sicherheit schon zehnmal am Tag gesprochen hatten – die Diskussion um die Präsenz rechtsradikaler Hassverlage war im letzten Jahr im diskursiven Mittelpunkt. Und ich habe informative, menschliche, durchdachte, doch auch authentische Gedanken zu dem Thema, zu anderen Themen, sammeln dürfen, die ich in meinem persönlichen Koffer mit Eindrücken mitnahm. Reicher um Wissen, um Anregungen, um Perspektiven.

Aufmerksame Präsenz auf der Veranstaltung einer Institution – auch wenn Stargäste wie Rushdie ihren Optimismus stets mit sich tragen (er habe eine geheime Quelle, die er allerdings nicht verraten dürfe, so Rushdie) – ist nicht mit der Befürwortung einer Institution, sondern mit der sorgfältigen Reflexion derselben gleichzusetzen. Wenn mir persönlich nicht gefällt, was jemand anderes tut, dann gehe ich zu dieser Person und äußere meine Meinung, sodass bestenfalls ein konstruktiver Dialog zustande kommt.

Auch indem ich diese subjektive Perspektive, meinen auf eigenen Erfahrungen basierenden Essay, im journalistischen Universum seinem selbstständigen Nachhall überlasse, ermutige ich kritische Diskussionen, Gedanken, Anregungen und Kommentare – nicht nur unter diesem Beitrag, sondern in weiteren Kreisen, Gesprächen und Texten.

© Sandra Falke

So lebt schließlich ein Diskurs: Angebotene Inhalte aktiv und sorgfältig konsumieren, ihren Wert deduzieren, ihre Schwächen und Fehler finden – um danach konstruktiv und weiterführend über sie zu sprechen.

Deswegen sehe ich einen jährlichen Besuch auf der größten Buchmesse der Welt als absolut imperativ an. Ebenso essenziell sind Auseinandersetzungen, Dialoge, der Konsum divergierender Perspektiven – und eine immerwährende konstruktive Perspektivenerweiterung.

Warum fährst Du zur Messe – und warum nicht? Ich freue mich sehr auf alle Aspekte des Gesprächs.


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1 Antwort

  1. Danke für diesen ausführlichen und interessanten Bericht. Ich gehe nicht so gern auf Messen, aber der Bericht gibt einen guten Eindruck von den verschiedenen Facetten.

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