Die deutsche Aktivistin, Essayistin und Romanautorin Koschka Linkerhand (* 1985) engagiert sich für diverse Brennpunkte zeitgenössischer feministischer Diskurse – hat abseits von Essays, Artikeln und Streitschriften allerdings auch bereits zwei historische Romane veröffentlicht. Ihr vordergründiger theoretischer Ansatz ist ein materialistischer Feminismus.
Welche entsetzlichen Realitäten über unsere Gesellschaft offenbart der biografische Bericht „Um mein Leben“ – und warum trägt die Mitautorin Azadiya H. einen Decknamen?

Koschka Linkerhands drittes Buch „Um mein Leben. Ein biografischer Bericht“ (2022) ist, wie der Titel bereits verrät, nicht als Roman, sondern literarisch aufgearbeiteter Bericht oder Biografie in Interviewform zu bezeichnen.
Diese Ortung liegt vor allem an der echten Vorlage ihres Berichts – Azadiya H. ist nicht nur eine Figur, sondern eine Person.
Fast bis zur Volljährigkeit hat die junge Frau einen anderen Namen getragen, zu einer großen Familie gehört und ein geregeltes Leben geführt.
Bis ihre Cousine von ihrem eigenen Vater ermordet wurde.
Die weibliche Form des Wortes „azadî“ – kurdisch für „Freiheit“ – hat Azadiya sich als Schutznamen rausgesucht, als sie ihre Familie endgültig verlassen hat, da auch sie vom Ehrenmord bedroht ist.
Alle Namen von Personen und Orten wurden im Buch geändert, jedoch wurden die Neubenennungen mit Symbolkraft verstärkt. So wird beispielsweise Azadiyas ermordete Cousine im Buch „Berxwedan“ genannt – „Widerstand“.
„Du kommst mir ungeheuer mutig und zugleich schutzbedürftig vor.
Der Gedanke geht mir durch den Kopf:
Wenn ich mich auf diese Sache einlasse,
dann muss ich sie verstecken, wenn sie in Gefahr ist.
Wäre das nicht zu viel, wäre das nicht zu nah?„(8)
Die perspektivische Herangehensweise des Berichts ist äußerst gelungen: mittels gemischten – auch visuell durch Kursivschrift hervorgehobenen – Perspektiven erfahren Lesende über die Hürden, Ängste und Traumata im Leben beider Frauen. Auch Linkerhand selbst reflektiert ihre persönliche Peripherie und erlaubt tiefgehende Blöße.
Überdies wird kritisch über die Mehrheitsgesellschaft und die tägliche Gewalt gegen Frauen und Mädchen diskutiert, die beiden Welten zugrunde liegt.
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Azadiya ist nicht nur kurdische Jesidin, sondern auch Lesbe – eine zentrale Nuance ihrer ohnehin komplexen und gefährlichen Existenz als vom Ehrenmord bedrohte Tochter einer jesidischen Großfamilie. Nicht nur aufgrund ihrer Queerness, sondern in analytischer Obduktion von Begriffswelten, Empfindungen, Erfahrungen und Ansprüchen finden Protagonistin und Erzählerin zunehmende Gemeinsamkeiten – an deren Existenz sie zu Beginn des Dialogs weitestgehend gezweifelt hatten.
„Mein Vater wollte am liebsten in Ruhe gelassen werden.
Aber dann sagte sein Bruder zu ihm: Willst du ein Mann sein,
schlägst du deine Frau und deine Kinder, bis sie dir gehorchen.“(21)
Patriarchale Strukturen und die daraus resultierende systemische Unterdrückung des Selbstbewusstseins von Frauen*, emotionaler Druck seitens Gesellschaft und Familie, die Betonung der Jungfräulichkeit als Tugend und die Koppelung von „Sex Schönheit und Fürsorge, die hauptsächlich für Mädchen wichtig war“ (81) – diese Aspekte sind dem Alltag beider Frauen zwar gemeinsam, doch erreicht Azadiyas Realität ganz andere Dimensionen des täglichen Horrors.
Körperlicher sowie emotionaler Missbrauch, tägliche Vergewaltigung seitens mehreren Geschwistern und vollständige Blindheit der anderen Familienmitglieder ihres Leids gegenüber sind nur einige derjenigen Schrecken, mit denen Azadiya sich auseinandersetzen muss.
Die Jesiden gehören nicht zu den sogenannten Buchreligionen (Islam, Christentum, Judentum). Das heißt, die Vermittlung religiöser Traditionen und Glaubensvorstellungen beruht seit Jahrhunderten ausschließlich auf mündlicher Überlieferung. (bpb) Obwohl Azadiya und ihre Geschwistern die Realschule besuchen und ein Ausbildung machen, um die Familie finanziell zu unterstützen, ist für Frauen kein weiterer Karrierepfad außer – einen von den Eltern gewählten Ehemann – zu heiraten und möglichst viele Kinder in die Welt zu setzen.
Inwiefern eine solche Bestimmung und Zwecklosigkeit von jeglichem Widerstand den Kindern bereits im jungen Alter eingepflanzt und eingeprügelt wird, erzählt Azadiya in mehreren entsetzlichen Passagen, an diversen bedenklichen Beispielen.
Im Fokus des Berichts steht nicht alleinig der Status quo jesidischer Familienbeziehungen, sondern soll es im Befreiung, Subversion, Individualismus und Toleranz gehen. Insofern ist das Cover des Buchs, ein Pfau in Regenbogenfarben, sehr stark und gelungen gewählt und gestaltet worden.
Der mächtigste und schönste Engel Melek Taus trete „meist in Gestalt eines Pfaus auf, daher ist der Pfau ein wichtiges Symbol im Jesidentum.“ (S. 23) Der Coverpfau wurde nach einem Motto von Azadiya H. stilisiert: „Liebe ist helal, Hass ist haram“ (S. 179). Ironischerweise predigt das Jesidentum Toleranz, die Umsetzung dieses Prinzips hinsichtlich des Umgang mit den eigenen Kindern, umso mehr mit queeren Individuen, ist selbstredend vollständige Heuchlerei. Doch da keine kritische Auseinandersetzung mit den Eckpfeilern der eigenen Kulturhistorie gewährt wird, lernen junge Individuen sich selbst zunächst anzweifeln und hassen, ehe eine Befreiung – in seltenen Glücksfällen – gelingen kann.
„Beim Zuhören und beim Schreiben wird mir immer bewusster,
dass Azadiyas Geschichte nicht die Geschichte
einer Parallelgesellschaft ist […].
Sie ist eine deutsch-jesidische Geschichte.“(95)
Linkerhands Bericht erstreckt sich über die logistischen Stationen und Hindernisse von Azadiyas Flucht und emotionaler Genesung über die unmittelbare Gegenwart – und unterstreicht den Mut zum Kampf für die eigene Freiheit sowie den Anspruch, anderen Mädchen zu helfen, das Schicksal von Berxwedan nicht zu erleiden.
Schließlich spricht dieses Buch universalmenschlich Mut im Angesicht von Terror zu. Die Wahrscheinlichkeit, von Familienmitgliedern getötet zu werden, verfällt für Azadiya H. nie. Doch betrachtet sie ihre bisherigen zahlreichen Errungenschaften im persönlichen Leben und vor allem die Erfolge bei der Rettung anderer jesidischer Mädchen als Preis, den sie gerne zahlt.
Mit Bedacht auf die sehr sensiblen Inhalte spreche ich für „Um mein Leben“ eine definitive Leseempfehlung aus. Dieser Bericht ist inspirierend, klug, kritisch und so entsetzlich wie wichtig, um unsere Gesellschaft besser zu verstehen und dem täglichen Terror entgegenzuwirken, der gegenüber jungen, hilflosen Mädchen ausgeübt wird.
Azadiyas vorbildlichen Mut gilt es stets zu ehren und weiterzutragen. Zudem lohnen die erhellenden Analysen von Linkerhand über Feminismus, Sensibilisierung, Gewalt und Alltag bereits an und in sich. Gemeinsam bilden die Perspektiven ein einzigartiges Leseerlebnis mit beeindruckendem Reflexionsboden.
Hier geht’s zur Leseprobe.
Bibliografie:
Titel: Um mein Leben. Ein biografischer Bericht
Autor*in: Koschka Linkerhand und Azadiya H.
232 Seiten | 18,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 05.09.2022
Verlag: Querverlag
ISBN: 978-3-89656-321-7
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