Eine vierdimensionale Dekonstruktion von Zeit und Raum, eine fesselnde wie berührende Lebensbilanz – und eine authentische Selbstsuche. Im heutigen Beitrag aus der Reihe „Drei Kurzrezensionen“ teile ich meine kompakten Eindrücke zu drei empfehlenswerten Romanen.
Zusätzlich zu den regulären ausführlichen Buchbesprechungen erscheinen seit Kurzem unter dem Serientitel „Drei Kurzrezensionen“ gebündelte Momentaufnahmen. Diese Texte entstehen meist als unmittelbare Eindrücke direkt während oder kurz nach der Lektüre und sollen lediglich eine Impression des jeweiligen Buchs darstellen. Weiteres können wir bei Interesse sehr gerne in den Kommentaren besprechen und ausführen.
Im heutigen Beitrag habe ich meine Gedanken zu drei lesenswerten Romanen gebündelt, die sich mit dem Themenkomplex Schmerz, Verlust, Herzschmerz, Trauer und verlorene Liebe beschäftigen.
Christine Koschmieder: „Dry“

Es ist einerseits die rohe Authentizität dieser autofiktionalen Lebensbilanz, die am Lesergemüt zerrt.
Die realistische Auseinandersetzung mit einem Leben, welches ohne Rücksicht nach und nach auf die Protagonistin einprasselt.
Das einerseits plötzlich, doch eigentlich nach und nach in kleinste Stücke gebrochene Herz, welches dennoch für die eigenen Kinder offen und stark bleiben muss. Die ewige Angst, nicht genug zu sein und Fehler zu begehen, wo Fehler an ihr begangen worden sind. So fesselnd wie berührend wie schneidend schreibt Koschmieder über diese unglaublich verletzlichen Momente.
Andererseits fließt direkt neben dem Brunnen der Verzweiflung eine wundersame Quelle der Selbsteffizienz, der Kraft zur Heilung – des Mutes zur Selbsterkenntnis und zur Selbstentblößung.
„Dry“ ist ein Roman über zerbrochene Beziehungen, bedingungslose Liebe, Trauer – und vor allem über Kinder, die den Alkoholismus ihrer Eltern ausbaden, erdulden und verschweigen müssen. Christine Koschmieders Protagonistin sinniert über die eigene Kindheit, die Beziehung zwischen Eltern und Großeltern, schreibt eine distanziert-sachliche-doch-dann-auch-direkt-aufschreiend-seelisch-zerrissene Bestandsaufnahme zum Verlust der Liebe ihres Lebens – und trifft Entscheidungen, die sowohl zu ihrer eigenen Heilung als auch zur tieferen Bindung zwischen ihr und ihren Kindern führt.
Die Strukturierung der Geschichte mit Adressen, Jahreszahlen und Teilnehmern der jeweiligen Kapitel ist argumentativ gewöhnungsbedürftig, da die Informationen auch aus dem Inhalt der respektiven Kapitel entnommen werden kann. Doch ergibt die Notwendigkeit der strukturierten Textverfassung á la Berichterstattung durchaus Sinn – eine Protagonistin, die vor der detailgetreu ausgemalten Kulisse eines vollständig gewöhnlichen Alltags in Wahrheit am Rande eines emotionalen Zusammenbruchs steht, braucht erstmal Struktur, um ihr Leben in die gewünscht Bahn zu lenken. Wer zu Ende gelesen hat, wird den Sinn auch im inhaltlichen, nicht nur im Kompositorischen wiederfinden.
Fazit:
„Dry“ ist ein im ruhigen Tempo dargelegtes seelisches Panorama, welches unauffällig doch zielsicher sämtliche Gefühle erweckt und ein Leseerlebnis mit enormem Nachhall hinterlässt. Sofern Lesende nicht vergessen, durchzuatmen, handelt es sich um schwere, doch äußerst lesenswerte Kost.
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Olivia Kuderewski: „Haha Heartbreak“

Liebesgeschichte oder Anti-Liebesgeschichte, zynische Abhandlung oder authentische Selbstsuche? Die Diskrepanz, die dem Titel von „Haha Heartbreak“ innewohnt, eröffnet sich erst nach der Lektüre in ihrer vollen Komplexität.
Was aufgrund der fröhlichen Farben des Covers eventuell als komödiantische Liebesgeschichte wahrgenommen werden könnte, entpuppt sich relativ schnell als intensive Achterbahnfahrt mit emotionalen und körperlichen Erfahrungen.
Im Grunde wird hier, wie vom Klappentext versprochen, eine ganz normale Trennung beschrieben. Die Protagonistin lässt Lichtblicke und traumatische Momente ihrer beendeten Beziehung Revue passieren, fantasiert über den gewaltvollen Tod ihres Ex und erlebt eine Vielzahl witziger und menschlicher Momente, die Tinder-Dates stets zu bieten haben.
Die Menge an Vorlieben und Dates und Orgasmen mag übertrieben vorkommen – andererseits besitzt Kuderewskis Perspektive auf kink fast schon einen didaktischen Wert, so realistisch wie sie die BDSM-Schnupperstunden der Protagonistin beschreibt.
Das Bukett an Situations- und Charakterkomik ist in „Haha Heartbreak“ durchaus vorhanden, die Ich-Erzählerin führt mit Selbstironie und behält diese durchweg. Jedoch lässt die Geschichte mehrwerdend innehalten und Empathie, Fürsorge, Vorsicht und Freundschaft für und zur Protagonistin fühlen – und die Hoffnung wahren, dass sie sich irgendwann wieder aus dem Panzer herauswagt, den sie sich zugelegt hat. Bis dahin seien ihr sämtliche Tinder-Eskapaden mehr als gegönnt.
Fazit:
Obwohl der Roman einige lustige Szenen birgt, überzeugt Kuderewski vor allem mit ihrer Authentizität und dem Mut, die Verletzlichkeit, die Verzweiflung und die Einsamkeit zu zeigen. Blut und Eiter seelischer Wunden stehen Lesenden voll und ganz zur Besichtigung frei und gestalten die Lektüre als mitreißend, ungemütlich und roh.
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Verónica Gerber Bicecci: „Leere Menge“
Aus dem mexikanischen Spanisch übersetzt von Birgit Weilguny

Die wahre Komplexität und Ambition von „Leere Menge“ von Verónica Gerber Bicecci können Lesende erst im Nachwort dieses faszinierenden Romans entdecken – denn in diesem erklärt die mexikanische Autorin, mit welchen Methoden sie ihren vierdimensionalen Text konzipiert und realisiert hat.
Die Geschichte ist bereits auf rein textueller Ebene ergreifend und komplex: die Protagonistin trauert um eine verlorene Liebe, verliebt sich erneut, reist mit ihrem Bruder nach Argentinien, rätselt um die verschollene Mutter – und versucht die sich in ihr breit machende leere Menge zu identifizieren, zu akzeptieren, zu therapieren.
Dass Bicecci selbst sprachlich ambitioniert vorgeht und dass ihre Protagonistin gerne Zeit und Raum und Individuen dekonstruiert, wird bereits in den Darstellungen der Figuren als Einheitenzeichen und ihrer Beziehungen als Grafiken, die zunächst sehr einfach gezeichnet sind, doch nach und nach den euklidischen Anschauungsraum verlassen und vierdimensional werden.
Dekonstruktion von Raum und Zeit anhand von Sternenbeobachtung, Recherchen zu den Jahresringen von Bäumen – und Dekonstruktion der Sprache am Beispiel von Liebesbriefen mit individualisierter Morphologie sind nur einige der Methoden, die Bicecci für ihren Roman mobilisiert.
Dass ihr anhand grafischer Darstellung vieles gelingt, welches der Text nicht ausdrücken kann, wird für analytische und wissenschaftlich geneigte Köpfe eine Faszination ohnegleichen sein. Dass die Geschichte selbst an der unglaublich komplexen Ausarbeitung nicht leidet, zeugt von schriftstellerischem Können par excellence.
Vieles wird hier der Interpretation überlassen, vieles ist ohne Ergänzung nicht sichtbar. Ob allerdings das Nachwort als Vorwort zu setzen das Abenteuer der selbstständigen Abstraktion zu sehr eingeschränkt hätte, muss jeder Lesende für sich entscheiden.
Fazit:
Für Strukturalist*innen und Linguist*innen, für experimentalliterarisch geneigte Lesende wird dieser Roman ein Lebenshighlight sein. ebenso. Wer traditionalistische, lineare, dreidimensionale, handelsübliche Texte mag, bleibe fern.
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Das Autofiktionale hab ich derzeit ein bisschen über und Bücher über „Vorlieben und Dates und Orgasmen“ sind … auch nicht so meins.
„Leere Menge“ klingt dafür umso interessanter. Es klingt auch so, als würde es mich hoffnungslos überfordern, aber Versuch macht kluch. 😉 Zumindest ist das Buch schon mal in der virtuellen Wunschliste der Buchhandlung meines Vertrauens gelandet. Falls das wirklich eine kluge Entscheidung war, werde ich berichten.
Herzlichen Dank für die Inspiration.
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Gerne!
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