Willkürliches Arpeggieren. Tamara Štajner: „Raupenfell“

Die slowenische Autorin Tamara Štajner untersucht in ihrem fesselnden Debütroman „Raupenfell“ die Sensibilitäten von Weiblichkeitsmustern, horcht den Echos schwerer Traumata – und obduziert die komplexe Natur von Glück und Schicksal.

Auf einer gefühlvollen und ereignisreichen Reise nimmt der Roman mit nach Wien, Porto, Ljubljana – und reißt das Lesendenherz an jeder Station ein Stückchen weiter auf.


© Wunderhorn


Tamara Štajner wurde in Slowenien geboren, schloss ihr Masterstudium im Konzertfach Viola in Wien ab und promoviert derzeit in Mainz.

Der Debütroman „Raupenfell“ lässt die erzählerische Nuanciertheit der Autorin auf dieser Ebene besonders erspüren – da die vielfältige Erzählkulisse im Buch unter anderem auch in die Welt der klassischen Musik einsteigt.


Anhand von drei Lebensgeschichten zeigt Štajner in ihrem Roman Muster und Formen weiblicher Verletzlichkeit auf, skizziert Pfade zur Selbstentfaltung – und leuchtet dabei die düsterdunklen Schatten an, die Frauen ständig bedrohen.

Die Protagonistinnen Georgiana, Dobrinka und Beatriz sind auf der Suche nach Erfolg, Glück, Selbstbewusstsein – in divergierendem Tempo jagen sie dem Gefühl von Angehörigkeit und Akzeptanz nach, sich selbst dabei oft vernachlässigend.


Bis alle Frauen mit der gleichen entscheidenden Lebensfrage konfrontiert werden.

Eine Wendung, die teilweise fatale Konsequenzen mit sich bringt.



Seine Lippen zucken, das linke Auge ist zusammengepresst.
Diese Warnsignale weiß sie längst zu deuten,
kann die Intensität seiner Laune aber nicht einschätzen.

Hinter ihrem Rücken sucht sie instinktiv nach der Türklinke.“(11)


Jovial, attraktiv, klug – wenn das nur ausreichen würde, um von den Komplexitäten ihrer Leben nicht stets verzehrt zu werden. Doch die drei Protagonistinnen haben alle in diversen Maßen zu leiden – unter emotionaler Kränkung, schwerer Trauer, körperlichem Missbrauch, Liebeskummer und Leistungsdruck.

Obwohl Štajner in ihrem Buch solide Lebensentwürfe mit interessanten Hintergrundsystemen skizziert – von der die Eltern belügenden Lebenskünstlerin mit Alkoholproblem bis hin zur Musikerin mit hochgradigem Talent und umso krasseren Minderwertigkeitsgefühlen –, schmelzen ihre Figuren immer wieder ineinander.

Ob dies mit dem Debütcharakter der Handlung zusammenhängt – oder der schlichten und schmerzvollen Wahrheit verschuldet ist, dass jede Frau an gewissen Punkten dieselben Herausforderungen zu schultern hat und sich aus toxischen Beziehungen retten muss?


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Sprachlich spiegelt sich eine genießbare Nuanciertheit in der Divergenz der drei Figuren wider: die zwei klassischen Musikerinnen ertasten ihre Umwelt in entsprechender Lexik, wohingegen die in der Welt der Kosmetik und medizinischer Ästhetik agierende Dobrinka als klarer Kontrast dient.

Beide Pole erweisen sich als genussvolle und interessante Lektüre.


Bereits bei jener ersten Begegnung […] ist ihr die Polyphonie
seines Geruchs aufgefallen, jene Leder-, Holz und Harztöne.

Jetzt will sie sich den Akkord seiner Haut einprägen.“(100)


Dass alle drei Figuren an gewissen Positionen aufeinander treffen und aneinander gebunden sind, verleiht der Handlung eine dynamische Komplexität und lässt darüber grübeln, wie mensch mit Unbekannten in derselben Stadt verknüpft sein könnte.

Die nächste Fahrt in der U-Bahn oder Straßenbahn nach dieser Lektüre fällt mit Sicherheit etwas introspektiver aus als die vorherige.

Die im Tempo gut bemessene, szenenweise unterschiedlichen Gewichts ausfallende Handlung wird ihrer Ambitioniertheit also gerecht – zumindest was die kompositorischen Aspekte betrifft.

Ebenso ist es enorm interessant aus der bekannt vertrauten Realität der Autorin zu lernen, die selber in der Welt der klassischen Musiker*innen zugange ist – und diesen zerstörerischen Zauber zu vermitteln weiß, der mit extremer Hingabe zur perfektionistischen Vermittlung klassischer Stücke verbunden ist – sowie mit der Sucht zum (an sich unmöglichen) Meistern des jeweiligen Instruments.


Der Konzertsaal ist ein geschützter Raum, glaubt man gern. […]
Doch genau diesem Ritus zum Opfer gefallen
stirbt so ein mancher Dirigent mitten auf der Bühne.
[…]
Die Musiker gehen bis ans Ende. Ganz gleich wie es ausgeht.

Es gibt nichts fanatischeres als uns Konzertsaalfanatiker.“(144)


Die Lektüre an sich gestaltet sich also bewegend, fesselnd und interessant, bietet diverse Themenkomplexe zur Reflexion und ist mit zahlreichen authentischen Passagen ausstaffiert.

Dennoch muss im Abgang auf hohem Niveau gemeckert werden, denn figurenpsychologisch hätte an diversen Stellen noch reichhaltiger gearbeitet werden können.

Auffällig wird nämlich das stellenweise Verschmelzen von Beatriz und Georgiana Beatriz mangelt es meines Erachtens an Autonomie als Figur mit psychologischer Tiefe, obwohl ihr extrinsischer Werdegang sehr ergreifend ist.

Gerade weil Beatriz im Ausgang des Romans eher als unmittelbares Medium für eine universaler ausgerichtete Botschaft fungiert, wird ihre Existenz wacklig: zum Schluss des Romans kommt die Künstlerin Taryn Simon zu Wort, die in einem Interview im Gagosian Gallery in New York über die in den USA regressierenden Grundrechte einer Frau in puncto Abtreibung spricht – und geradezu nebensächlich Gedanken über die Suche nach einem eigenen Existenzraum, der gesellschaftlichen Genehmigung zur Autonomie äußert.

(Der entsprechende Clip ist auf YouTube nachzuschauen.)

Ebenso verlaufen gewisse Teilaspekte der Handlung gefühlt im Sand, nur um Raum für neue Konstellationen zu schaffen. Welchen Einfluss die jeweiligen Begegnungen schlussendlich auf die einzelnen Figuren haben und wo diese zum Schluss des Romans sind, bleibt argumentativ etwas zu offen.


Zweifelsohne ist „Raupenfell“ ein lesenswertes Buch mit zahlreichen Anfängen – von denen etwas zu viele schließlich keinen Ausklang erhalten. Dies fällt allerdings erst im reflexiven Nachhall auf, da der Roman auf Anhieb einen starken erzählerischen Sog entwickelt.

Mit beeindruckender Feinfühligkeit und in schöner Sprache spricht Tamara Štajner in ihrem Roman wichtige Themen an, zeigt fesselnde Lebenswege, malt vielfältige Stadtportraits und weist auf tiefsinnige Diskurse über die essenziellen Facetten weiblicher Autonomie hin.


Auf den zweiten Blick fallen dem analytischen Auge zwar die oben benannten Unebenheiten im narrativen und vor allem figurendynamischen Putz auf – doch da es sich um ein Debüt handelt, möchte ich summierend dennoch Milde walten lassen, da Štajner stilistisch und kompositorisch klar überzeugte.

Die Feinheiten darf sie daher gerne im nächsten Roman glattbügeln – Ich verbleibe voller Vorfreude auf einen weiteres Buch von der Autorin.

Bibliografie:

Titel: Raupenfell
Autor*in: Tamara Štajner

320 Seiten | 28,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 28. August 2023
Verlag: Wunderhorn

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