Elif Shafaks neuester Roman „Am Himmel die Flüsse“ nimmt Lesende mit auf eine Reise durch Jahrhunderte und Kontinente, gewährt einen Blick auf vergessene Bücher, verlorene Sprachen und vergrabene Städte. Shafak webt drei faszinierende Lebenslinien ineinander, gleitet mühelos durch Zivilisationen und Kulturen.
Dieses Buch trägt mehr als Welten in sich – Shafak bietet nicht weniger als eine revolutionäre Perspektive auf die Menschheitsgeschichte.
Die preisgekrönte britisch-türkische Schriftstellerin Elif Shafak gehört zu den bedeutendsten Autorinnen der Gegenwart. Ihre Bücher wurden in 57 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Shafak promovierte in Politikwissenschaften sowie in Humane Letters am Bard College und lehrte an verschiedenen Universitäten in der Türkei, den USA und in Großbritannien. Sie ist Vizepräsidentin der Royal Society of Literature.
Mit ihrem neuesten Roman „Am Himmel die Flüsse“ (There are Rivers in the Sky), übersetzt aus dem Englischen von Michaela Grabinger, gelingt es Elif Shafak mit einer sagenhaften Leichtigkeit, die innere Magie der menschlichen Natur mit der komplexen Wandlungsgeschichte der menschlichen Kulturen zu kombinieren – und währenddessen eine fantastische Erzählung zu komponieren.
„Dies sind die glücklichsten Tage im Leben von Arthur […].
Doch das wird ihm erst bewusst, als sie vergangen sind.“(133)
Drei Protagonist*innen begleitet Shafak auf ihren Lebens- und Leidenswegen, deren aller Werdegang von Herausforderungen und Kämpfen gezeichnet ist – seien es Narin und Zaleekhah in den Jahren 2014 und 2018 oder Arthur im Jahr 1840.
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Die neunjährige Narin muss wegen eines Dammbauprojekts der türkischen Regierung ihr Heimatdorf am Tigris verlassen. Sie findet am Vorabend des Aufbruchs, beim letzten Abschied von den verschiedenen Familienmitgliedern, neben dem Grab ihrer Ururgroßmutter, das Grab eines gewissen Arthur.
Narin leidet an einer unheilbaren Krankheit und soll ihr Gehör binnen kürzester Zeit vollständig verlieren. Umso wichtiger ist es ihrer Großmutter, sie vorher im heiligen Lalish-Tal taufen zu lassen, gemäß ezidischer (auch „jesidisch“ oder „yezidisch“, es wird hier und im Weiteren der Originallaut aus dem Text übernommen) Tradition.
Dass Arthur sich mit den Eziden auseinandersetzt und eine Faszination für ihren Glauben entwickelt, geschieht eigentlich durch Zufall, durch seine Begegnung mit einem Buch über Mesopotamien. Arthur, der aus einem Londoner Elendsviertel stammt und im Dreck des Themseufers geboren wurde, besitzt ein außergewöhnliches Talent: Er hat ein fotografisches Gedächtnis.
Als Außenseiter und Verschmähter hegt Arthur eine besondere Sympathie mit der als Teufelsanbeter verschmähten ezidischen Minderheit. Das grausame Schicksal und die Brutalität gegenüber der Eziden seitens ihrer unmittelbaren Umwelt wird im Laufe des Romans anhand alltäglicher Begegnungen, aber auch durch heftige, blutige Szenen wiedergegeben – die in Teilen auf wahren Begebenheiten basieren.
Dem mutigen und emsigen Arthur gelingt durch harte Arbeit der Ausbruch aus dem vom tyrannischen Vater überwachten Haushalt und der Aufstieg zum Lehrling, zum Auszubildenden, zum Gehilfen, Wissenschaftler und Abenteurer – zum Gesandten des Britischen Imperiums.
Wie diese zwei Menschen miteinander verbunden sind – und was das Ganze mit der in London lebenden Zaleekhah zu tun hat? Nach und nach werden immer mehr Linien, Knotenpunkte und Vernetzungen in dieser ergreifenden Geschichte sichtbar.
Zaleekhah ist Hydrologin und hat ihre Eltern aufgrund von tragischen Umständen verloren – trotz der Unterstützung ihres wohlhabenden Onkels und einer erfolgreichen Karriere als Hydrologin hat die junge Frau ihre tief sitzenden Wunden keineswegs heilen können und setzt nun endlich nach einer misslungenen Ehe und einem weiteren tragischen Verlust zu einer entschlossenen Selbstsuche an.
Jetzt oder nie. Alles oder nichts.
Die Zusammenhänge, die sichtbaren und unsichtbaren Bindungen zwischen den drei Figuren sind in Teilen unerwartet, in Teilen erschütternd – und in Teilen auch sehr auffällig konstruiert – doch immer irgendwie interessant. Die Feinheiten, selbst die des augenscheinlich Konstruierten, erweisen sich mit jeder weiteren Reflexion als sorgfältig durchdacht und grundlegend faszinierend.
Zu behaupten, dass Prämisse, Handlung und Kulisse des Romans anspruchsvoll angelegt worden sind, wäre eine Untertreibung. Der bereits komplexen Figurenlandschaft wird ein naturwissenschaftliches Phänomen, ein omnipräsenter und essenzieller Teil unseres Planeten hinzugefügt: Wasser.
Auch in dieser Hinsicht gelten ambivalente Gedanken. Shafak bindet das menschliche Personal an ein für einige Lesende mit Sicherheit zutiefst beeindruckendes, für andere unter Umständen viel zu märchenhaftes Element, welches die gesamte Geschichte allerdings objektiv stringent zusammenhält.
Das Buch dokumentiert die tausende Jahre andauernde Reise eines Wassertropfens durch die Weltgeschichte – in all ihren Aggregatzuständen, versteht sich.
Von 630 v. Chr. bis zum heutigen Tag – und in die Zukunft hineinblickend.
„Die Aura eines assyrischen Königs
ist ihr eingeprägt wie ein unsichtbarer Fingerabdruck.
Sie landet sanft auf dem Gesicht des Säuglings,
zwischen seinen geöffneten Lippen.“(43)
Im Grunde genommen ist dieser Kunstgriff von der Autorin bereits erprobt, wenn nicht fast schon als Shafakesk zu bezeichnen: In einem ihrer berühmtesten Romane, „Das Flüstern der Feigenbäume“ (The Island of Missing Trees) wird der Feigenbaum personifiziert und erhält eine eigene Erzählperspektive, die helfen soll, Lücken in der Handlung organisch zu füllen.
Der genannte Kniff ließ diesen Roman in meinen Augen wie eine kreative Kooperation zwischen Lifetime und Hallmark anmuten – in Kombination mit zahlreichen Sätzen, die sich im Raum des Sentimentalen verloren haben und die eigentliche Schwere der Geschichte so dick im Märchenhaften einwickeln, dass sie trotz unglaublich interessanten Handlungsgerüsts nicht mehr wie Erwachsenenliteratur gelesen werden kann (ähnlich – meines Erachtens – beispielsweise dem tragischen Schicksal von „Die Bücherdiebin“ von Markus Zusak).
Im neuesten Roman findet Shafak jedoch das richtige Gleichgewicht zwischen dem Sagenhaften im Wissenschaftlichen, den Legenden in der Historie und dem Gefühlvollen in einer Chronologie. „Im Himmel die Flüsse“ erkundet das tiefste Elend der menschlichen Seele, ohne die hydrologischen Schwerpunkte der wissenschaftshistorischen Begleitgeschichte aus den Augen zu verlieren.
Zugegeben: Es wird im erzählerischen Raum ab und an etwas verschwenderisch umhergegangen. Shafak jongliert gerne mit etwas überspitzten Vorblenden, emotionsgeladenen Reflexionen und sentimentalen Bemerkungen über lauerndes Unglück, schicksalhaftes Sich-Begegnen (oder vom-Lesenden-gesehen-werden-und-Sich-nie-Begegnen) und den unumgehbar im Raum stehenden und sich nähernden Tod. Dennoch nehmen solche Passagen in diesem Text nie die Überhand.
Im Vordergrund stehen die figurenpsychologischen Entwicklungen, die Bindung der Figuren zueinander, die wissenschaftliche Historie des Wassers und der Flüsse weltweit, die prekäre Beziehungsgeschichte von Menschen und Wasser – und das Gilgamesch-Epos.
„Mit der jeweils besten Eigenschaft dieser drei Arten versehen,
stehen sie für die menschliche Intelligenz, die Kraft
des Bullen oder Löwen und den scharfen Vogelblick.
Die Lamassus sind die Hüter der Türen,
die sich in andere Gefilde öffnen.“(18)
Obwohl es sich nicht um eine Novelle, sondern einen (enorm gehaltvollen) Roman handelt, schweben die mythischen, mächtigen Lamassus wie Falken über den Figuren, beobachten ihre Krisen und die Kreuzungen ihrer Lebenswege, alle drei stets begleitend, ihrem Glück und Unglück mit stoischem Gemüt beiwohnend. Dass alle drei Protagonist*innen ihnen begegnen, ist eine wunderschöne Verzierung, die die Einzelteile der Geschichte auf einer weiteren Ebene gelungen zusammenfügt.
Wie Flüsse sich im Himmel und unter der Erde befinden können, dass auch Wasser – wie Arthur – nie vergisst; und dass wir Menschen mit unserer Erde sanfter und aufmerksamer umgehen sollten, sind nur einige der spannenden Offenbarungen, die der Roman für seine Leserschaft bereithält.
Schließlich muss auch das gelungene Spiel mit historischen Feinheiten gelobt werden: Shafak stellt souverän sicher, dass und wie Fakt und Fiktion stets ordentlich und verantwortlich getrennt werden. Trotz eines unglaublich vielfältigen Pensums an Teilthemen, historischen Orten, tatsächlichen Begebenheiten und dem immerwährend verlockenden Funkeln der Etikette „Wahrheit“, die an mehreren spekulativen Aspekten angebracht werden könnte, legt die Autorin im ebenso unglaublichen spannenden Nachwort präzise dar, welche Personen, Institutionen, Ereignisse und Theorien ihrer belletristischen Ausarbeitung zugrunde liegen.
Im Nachwort wird auch deutlich, welchen massiven Umfang die Recherchen für dieses Buch hatten – und mit welcher Begeisterung und Leidenschaft die Autorin an ihrer Materie gearbeitet hat.
Der Roman liest sich in Teilen als Liebeskind von Charles Dickens und Anthony Doerr – ist aber voll und ganz als Meisterwerk der einzigartigen Elif Shafak zu erkennen.
Auch wenn diese Zuordnung schlussendlich nicht nur mit Lob und Verherrlichung einhergeht, lieferte Elif Shafak ein erhellendes, fesselndes Leseerlebnis. Daher spreche ich für „Am Himmel die Flüsse“ gerne eine Leseempfehlung mit Nachdruck aus.

Bibliografie
Titel: Am Himmel die Flüsse
Autor*in: Elif Shafak (Ü: Michaela Grabinger)
592 Seiten | 28,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 22.07.2024
Verlag: Hanser
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