Über den Abgrund gehen. Kaśka Bryla: „Mein Vater, der Gulag, die Krähe und ich“

Kaśka Bryla webt in ihrem neuesten Roman „Mein Vater, der Gulag, die Krähe und ich“ eine facettenreiche Geschichte über Widerstand, Liebe, Resilienz und Überdauern.


Kaśka Bryla ist zwischen Wien und Warschau aufgewachsen. Sie studierte in Wien und Leipzig, wo sie 2015 die Literatur­zeitschrift und das Autor*in­nennetzwerk „PS – Politisch Schreiben“ mitbegründete, und war Redakteurin des Monatsmagazins „an.schläge“. 2023 wurde ihr Theaterstück „Im Herzen der Krähen“ uraufgeführt. 2020 erschien der Debütroman „Roter Affe“, 2022 der Roman „Die Eistaucher“. „Mein Vater, der Gulag, die Krähe und ich“ ist Brylas dritter Roman.

Obwohl ihre Familienhistorie und das Schreiben an erster Stelle stehen sollten, tastet die Protagonistin sich zunächst nur in langsamen Schritten an die Auseinandersetzung mit der Vaterbiografie an. Im Eingang der Geschichte wird erwähnt, dass sie sich „endlich“ (15) die Aufnahmen der Gespräche mit ihrem Vater anhören würde, der als Mitglied der polnischen Untergrundarmee im Gulag interniert war. Die genaue Einsicht in die blutige Geschichte Polens wird aber verschoben – unter anderem, da es plötzlich eine andere Kreatur gibt, die die Aufmerksamkeit der Protagonistin beansprucht.

Auf unerwartete und ungewöhnliche Manier wird sie zur Mutter.


[…] mit einem Mal weiß ich,
[…]
dass mein Leben,
wie lange es auch dauern wird,
nur noch diesen Sinn hat,
[…]
ihn zu ernähren und zu beschützen […].
(42)


Als Karl das Krähenbaby aufgrund eines verletzten Flügels von den Bewohner*innen ihres Wagenplatzes in Obhut genommen wird, entscheidet die Protagonistin sich, über ihn zu wachen, um durch seine Pflege ihre eigene Erlösung zu finden. Sie möchte „Hühnerherzen in seinen Schlund stopfen, bis er zum stärksten Vogel wird“ (39).

Von welcher großen Schuld möchte sie sich mit dieser Aufgabe jedoch befreien?


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Kaśka Bryla widmet das Buch ihrem Vater, Zygmunt Bryła – und sich selbst. Der Vater der Protagonistin ist an Lungenkrebs gestorben, sie fühlt sich an seinem Schicksal beteiligt; möchte das Versprechen halten, sich mit seiner Geschichte auseinanderzusetzen – die sogleich ihre eigene ist. Zahlreiche Gespräche über seine Gefangenschaft, seine politische Position und die Entwicklungen in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sie aufgenommen und möchte diese in ihrem werdenden Buch verarbeiten.

Noch fehlt es ihr an Kraft. Sie hat nämlich auch mit einem gebrochenen Herzen und ihrem eigenen schweren Krankheitsverlauf zu kämpfen.


Ich hätte mir Hilfe holen sollen,

anstatt zu versuchen,
dir Köchin, Krankenfplegerin, Chaufferin,
Beraterin und Tochter zugleich zu sein.
(52)


Der individuelle und kollektive Umgang mit kranken, schwächeren Mitgliedern der Gesellschaft; das Gefühl, im Stich gelassen zu werden; als in keinster Weise mehr interessant oder begehrenswert zu gelten, sind Gedanken, die die Protagonistin täglich belasten. Ihre Exfreundin macht Urlaub mit Hund in Norwegen, die Menschen auf dem Wagenplatz verschwinden nach dem Abebben der Pandemie nach und nach – und die Ärzte haben weder Empathie noch Zeit für ihre Schmerzen und Leiden.

Wo sie sich doch immer mit Hingabe um ihre erkrankten Freund*innen und Familienmitglieder gekümmert hatte, sitzt sie nun meist alleine im Campingstuhl vor ihrem Wagen im Wald.

Trotz aller Hindernisse arbeitet die Protagonistin sich in kleinen Schritten literarisch durch die Geschichte Polens im 20. Jahrhundert. Auch wenn es erstmal nur dem Zweck dient, der Exfreundin zu zeigen, wie gut sie doch noch ‚funktionieren‘ kann. Sie erörtert die Historie der Gulags, die Verfolgung und Ermordung der Jüd*innen seitens Hitler und Stalin, obduziert die – für mich bisher kaum bekannten – Territorialkonflikte zwischen Ukraine und Polen. Die Begriffe Heimat, Familie, Identität und Verfolgung werden nach und nach in einen soziohistorischen Kontext eingebettet – bis hin zu den jüngsten internen Konflikten in der eigenen Familie.


Nicht einmal ihr […]
konntet mein Zuhause sein,
weil homosexuelle Kinder
meistens heterosexuelle Eltern haben.

Auch Karl wird von einem
fremden Wesen aufgezogen.
(212)


Gefühlt in exakt entgegengesetzter Reihenfolge – über sich, die Krähe, den Gulag und ihren Vater – reflektiert die Protagonistin; ihren Blick immer wieder ausweitend, bis alle Teilthemen enger und feiner in ein großes Ganzes eingewoben sind und die narrative Decke sich unauffällig um den Lesenden gewickelt hat.

Die Gespräche zwischen Vater und Tochter – in Teilen aus der Vergangenheit heraufbeschworen, in Teilen in ihrem eigenen Kopf ausgetragen und in Teilen vom Band abgehört –, lassen eine liebevolle und komplexe Beziehung erahnen. Kritisch wird es bei den Diskussionen um Gleichberechtigung und Demokratie, um Homosexualität und Inklusivität; ums Verständnis von diversen Begriffen, zu denen die alten und jungen Geister sich scheiden. Die entsprechenden Konflikte lassen eine fragile Familiendynamik sichtbar werden, die von ambivalenten Emotionen getragen wird. Sicherlich lässt sich hierin auch ein Querschnitt zeitgenössischer polnischer Diskurse interpretieren.

An dieser Stelle möchte ich jedoch nicht tiefer in die Materie greifen, damit Lesende die Komplexitäten der Geschichte auf eigene Hand entdecken können.

Der Roman gewinnt bis zum Schluss subtil an Klangkraft und Komplexität. Erst am Ende erschließt sich die Sorgfalt seiner Komposition. Die Protagonistin erwähnt zum Beginn der Geschichte, die „eigene Geschichte nur über das Verstehen der Geschichte anderer“ (31) begreifen zu können – und diese Aussage resoniert am stärksten auf den letzten Seiten, auf denen alle Handlungslinien ineinanderfließen.


Ein enorm starkes Ende für einen tollen Text – den ich, zugegeben, auf den ersten Blick als stilistisch sehr schwer lesbar empfand, da Bryla in den ersten Kapiteln strengstens davon absieht, Sätze zu beenden, und seitenlange Gefüge mit einer Anreihung von Kommata formuliert.

In der Reflexion zum gesundheitlichen Zustand der Protagonistin ergibt diese textuelle Darstellung – des Vorbeischwebens, des sich als unglaublich schwierig gestaltenden Punktsetzens, nicht klar blicken Könnens – allerdings sehr viel Sinn. Erst zum Schluss gewinnt die Protagonistin ja selbst die Fähigkeit, durchzuatmen. Von Autorin zur Mutter zur Autorin werdend heilen Karls Flügel und ihr Herz. Die Schritte werden nach und nach länger, ihre Gedanken im Schriftlichen pointierter und ihre Sätze klarer umrissen. Entsprechend entwickelt sich auch der Schreibstil.


Kaśka Brylas „Mein Vater, der Gulag, die Krähe und ich“ ist ein einzigartiges Gewebe aus bewegenden, schmerzhaften, inspirierenden und lustigen Geschichten, welches zu entdecken sich unbedingt lohnt.


Disclaimer: Bei dieser Buchbesprechung handelt es sich um eine bezahlte Kooperation. 
Das beeinflusst jedoch in keinerlei Hinsicht meine authentischen Gedanken zu Buch, Thematik und Autor*in.

Bibliografie

Titel: Mein Vater, der Gulag, die Krähe und ich
Autor*in: Kaśka Bryla

256 Seiten | 26,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 11.08.2025
Verlag: Residenz Verlag

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