Victoria Amelina, ukrainische Schriftstellerin, Dichterin und Aktivistin, wurde im Sommer 2023 durch eine russische Rakete getötet. Sie wurde 37 Jahre alt.
Amelinas letztes Buch „Blick auf Frauen. Den Krieg im Blick“ sammelt einerseits Eindrücke derjenigen Frauen, die sich für das Bestehenbleiben der ukrainischen Kultur und Geschichte, der Versorgung und Pflege der Bevölkerung und dem Schutz ihres Landes einsetzen. Überdies ist das Buch posthum zu einer Hommage an Victoria Amelina selbst geworden.
Victoria Amelina war ukrainische Autorin, Dichterin und Menschenrechtsaktivistin. Sie schrieb Romane und Kinderbücher, zudem erschien posthum eine Sammlung ihrer Gedichte. 2021 gründete Amelina in dem Ort Nju-Jork im Donezk das New York Literature Festival. 2023 gab sie das Kriegstagebuch des Anfang 2022 von russischen Soldaten ermordeten Kinderbuchautors Wolodymyr Wakulenko heraus.
Im Juni 2023 wurde Amelina in Kramatorsk durch eine russische Rakete tödlich verletzt.
„Blick auf Frauen. Den Krieg im Blick“, übersetzt aus dem Englischen von Steffen Beilich und Andreas Rostek, begann als Kriegstagebuch und wurde zur Geschichte außergewöhnlicher Frauen. Hier erzählt Amelina ihre Lebensgeschichte, teilt ihren Weg von Autorin zur Beobachterin von Kriegsverbrechen. Organisch webt sie ihre Gespräche, Bemühungen und Missionen in Zusammenarbeit mit Individuen aus diversen Sphären des ukrainischen Widerstands in diese Geschichte ein. Es entsteht ein facettenreiches Panorama zum entsetzlichen Zustand des Landes einerseits, zur bemerkenswerten Resilienz der Ukrainer*innen andererseits.
„„Er wünscht sich,
dass Vladimir Putin stirbt.“
Für einen Sekundenbruchteil
erstirbt das Lächeln der Touristenführerin.
[…]
Ich kann ihr das nicht verübeln.
Es ist nicht gerade das,
was man von einem Zehnjährigen
erwarten würde.„(26)
Am Beginn des Buchs stehen herkömmliche Eindrücke eines normalen Menschenlebens: Victoria Amelina erzählt über ihre Urlaubsreise mit ihrem Sohn, kurz vor Kriegsbeginn. Die Geschichte entwickelt sich schnell in eine Krisenbewältigungsdokumentation, da plötzlich bereits die Rückkehr aus Ägypten nach Europa erschwert bis unmöglich geworden ist.
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Es sind zunächst vorrangig Alltagsszenen und menschliche Emotionen wie die Furcht einer Mutter um ihre Kinder oder die Unsicherheit von Partner*innen, ob sie die geliebte Person nochmal sehen werden, wenn sich diese in einem anderen Dorf oder einer weit entfernten Stadt befindet. Amelina hält viele solcher Momente fest – bestehend aus Gedanken erster, zweiter und dritter Hand.
„Ich bin Krieg.
Wir Ukrainer sind alle zu Krieg geworden.
Alles andere an uns ist jetzt unwichtig […].“(48)
Des Weiteren verfolgt, beobachtet und dokumentiert Amelina jedoch diejenigen Frauen, die den Staat und ihre Institutionen am Laufen halten: Rechtsanwältin Jewhenija Sakrewska, Theaterdirektorin Oleksandra Matwijtschuk, Aktivistin Iryna Dowhan und viele andere. Auch wenn die Handlungen und der Mut der respektiven Frauen besonders in Bezug auf ihren Beruf und ihre Position im Krieg detailliert beschrieben werden, fehlt nie das Menschliche an ihren Gedanken und Taten. So behält das Buch zunächst das Gleichgewicht zwischen Bericht und Tagebuch.
„Einen Fall vorzubereiten, das sollte
wie das Schreiben eines Romans sein.
Um es richtig zu machen,
muss man alles wissen,
jedes Detail.“(128)
Als Amelina ihre Karriere beim NGO Truth Hounds in Kjiw beginnt, wo sie lernt, Kriegsverbrechen zu dokumentieren, begleiten Lesende sie und werden ebenso eingeweiht in die Grundlagen der Zeugenvernehmung, die Aufnahme von Informationen und in den Umgang mit schwierigen Situationen. Details und Schritte beim Ordnen, Speichern und Systematisieren von Dokumenten erweisen sich als ebenso hohe Stolpersteine wie Gespräche mit Personen, die grausame Verbrechen wiedergeben müssen.
Eine frühere Struktur des Buchs wäre ausschließlich nach den erlernten Lektionen bei dieser Tätigkeit gegliedert gewesen – und ums Lernen dreht sich schlussendlich dennoch der Großteil der Texte, auch wenn das Konzept ein anderes, ein allgemeinmenschlicheres, ein argumentativ besseres geworden ist; durch das Kombinieren mit dem Alltagsaspekt, den respektiven Geschichten und Individuen, weiter blickt und einem Lesenden wesentlich mehr beibringt.
Lektionen, die Amelina und anderen Frauen geholfen haben, den Kriegsverlauf zu dokumentieren und Geschichte akkurat zu schreiben, helfen auch uns als Lesende, Beistehende und Zeug*innen, die Ereignisse einzuordnen, einen Durchblick zu gewinnen und sowohl Menschen als auch Abläufe besser zu erkennen.
Der letzte Teil besteht größtenteils aus Fragmenten und Skizzen, zudem sind relevante Berichte und Gespräche hinzugefügt, bzw. als Gerüst stehen gelassen worden – sodass bestmöglich erkennbar wird bzw. bleibt, wie das Buch ursprünglich geplant war und mit welchen Schritten Amelina die Geschichte ihres Landes erzählen möchte.
Schlussendlich sind es aber in jedem der Teile des Buchs – egal wie Komplex das Ganze sich als Querschnitt gestalten mag – der Wille und die Initiative von Victoria Amelina selbst, ihre unermüdliche Suche nach Spuren und Menschen, nach Beweisen und nach Gerechtigkeit dasjenige, was es zu so einem besonderen Dokument macht. Ihre immerwährende Menschlichkeit und Zweifel im Angesicht einer großen Aufgabe mit hohen Ansprüchen.
„Ich möchte ein Buch schreiben,
und ich überlege,
ob ich das kann,
ein Buch mit Reportagen
über die Menschen,
die den Krieg dokumentieren.“(290)
Mit Amelinas Worten endet das Buch, mit ihrer Freude über die eigenen Fortschritte, – mit der Anmerkung, dass das Buch fast fertig sei.
Die Herausgeberinnen betonen ihre Verantwortung und die Komplexität der Aufgabe in Anbetracht der bestehenden Strukturen, Vorlagen und Skizzen in der Vorbemerkung und im Nachwort. Insofern wurden alle Eingriffe sowie konzeptuelle Originalideen deutlich hervorgehoben und viele Notizen im ursprünglichen Wortlaut wiedergegeben. Es entsteht ein umfangreicher Eindruck dessen, was aus dem Buch werden sollte – und eine authentische Dokumentation der unglaublichen Bandbreite von Amelinas Arbeit und Einsatz.
In meinen Augen handelt es sich bei Victoria Amelinas „Blick auf Frauen. Den Krieg im Blick“ um unbedingte Pflichtlektüre für alle Europäer*innen, die ein reflektiertes Gemüt über zeitgenössische Entwicklungen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft als wertvoll betrachten.
Bis zum 22. August hast Du die Option, Deine Stimme für „Blick auf Frauen. Den Krieg im Blick“ für den Hotlist-Buchpreis der unabhängigen Verlage abzugeben. Hier geht’s zum Wahllokal.

Bibliografie
Titel: Blick auf Frauen. Den Krieg im Blick
Autor*in: Victoria Amelina
304 Seiten | 22,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 21.03.2025
Verlag: edition.fotoTAPETA
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Kategorien:Home, Neuerscheinungen, Sachbuch


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