Töversche – Hexe – Ikone. Jarka Kubsova: „Marschlande“

Die tschechisch-deutsche Autorin und Journalistin Jarka Kubsova stand bereits 2021 mit ihrem in Südtirol spielenden Debütroman „Bergland“ auf der Jahresbestsellerliste. Für ihren neuen Roman „Marschlande“ tauchte die Hamburgerin tief in die Geschichte der Stadt sowie der Vier- und Marschlande ein, um über weibliche Schicksale, Bewegungen in Erdflächen und Menschenseelen – und entsetzliche historische Tatsachen zu schreiben.

Es entstand ein aufwühlendes Meisterwerk.


© S. Fischer

Jarka Kubsovas neuester Roman „Marschlande“ bewegt sich auf zwei zeitlichen Ebenen:

das Geschehen spielt in den Vier- und Marschlanden im Südosten Hamburgs und wird sowohl im 16. Jahrhundert als auch in der unmittelbaren Gegenwart erzählt.

Faszinierend, erschütternd und beunruhigend ist, wie viel beide Geschichten trotz (vermeintlich) enormer zeitlicher Distanz gemeinsam haben: denn Kubsova berichtet auf beiden zeitlichen Ebenen über den schweren Kampf einer Frau auf dem Weg zur beruflichen und gesellschaftlichen Selbstbestimmung.

Zweifelsohne erleidet die Bäuerin Abelke Bleken, die ihren Hof alleine führt, mit ihrer Selbstständigkeit und ihrem Trotz dem gesamten Dorf ein Dorn im Auge ist, ein wesentlich ungerechteres Schicksal als die Geografin Britta Stoever, die fast fünfhundert Jahre später mit Mann und Kindern in die Marschlande zieht:

Abelke wird – dies verrät die Geschichte bereits in der düster-intensiven Exposition – auf einem Scheiterhaufen als Hexe verbrannt.



Und jetzt sieht sie da draußen ein Bild in Grau und Silber,
Wasser und Sturm, Tod und Untergang.

Entsetzlich und schön zugleich ist es.“(36)


Die Figur der Abelke Bleken basiert auf einer realen Person: die Ochsenwerder Bäuerin besaß einen rund neun Hektar großen Hof, den sie aufgrund einer vermeintlichen Notsituation abtreten musste.

Doch offenbart ein zweiter Blick eine weitaus gravierendere und historisch maßgeblichere Ungerechtigkeit.

Britta entdeckt Abelkes Namen zunächst auf einem Straßenschild und wirft bei ersten Recherchen zunächst ein Auge auf online kursierende Sagen und Legenden, geht in ihrer Forschung jedoch immer tiefer in historische Gefilde voran. Dabei deckt sie geradezu alltägliche Gräueltaten auf, die den Bauern zu Zeiten Abelkes seitens der Ratsherren und Vogte angetan worden sind.

Kubsova durchleuchtet in „Marschlande“ also nicht nur die erschütternde despotische Gewalt, mit der die Wohlhabenden sich an der Not der Mittellosen bereicherten, sondern auch die beschämende Niedertracht, mit der Frauen in diesem Kontext behandelt worden sind.

In diesem Rahmen ist die Resilienz Abelkes im Angesicht größten Elends nur noch umso mehr zu bewundern – und sind ihre historische Position sowie ihre Lebensgeschichte umso wichtiger weiterzutragen.

Denn Abelke Bleken hat – im Kontext ihrer Zeit – nicht weniger als den Titel einer feministischen Ikone verdient.


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Kubsova gelingt in diesem sprachlich naturnahen, kargen, düsteren, in dunklen Herbsttönen gesättigten Textkorpus nicht nur eine sozialkritische Behandlung derjenigen Aspekte, die zur gemeinschaftlichen Verbannung und Verurteilung Abelkes führten. Sie zeichnet überdies den inneren Zwiespalt der Protagonistin auf – die sich durchaus auch mal verliebt hat und auf diversen Fronten betrogen wurde.

Sosehr Abelke auch eine Frau – eine Person, ein Mensch – wie jede andere ist, sticht sie durch ihre überdurchschnittliche Kraft und ihre Hingabe für ihr Land hervor, welchen keiner der anderen Bauern nahekommt.


Erde, auf der sie zur Welt gekommen war, […]
in die sie gesät hatte, von der sie geerntet hatte.

Die Erde steckte ihr unter den Nägeln, zwischen den Zehen,
sie klebte auf ihrer Kopfhaut. Sie war diese Erde.“(181)


Dass ihr solche Leistungen gelingen können, hängt selbstredend auch mit ihrem Single-Dasein zusammen: Abelkes Busenfreundin Leneke, die heiratet und eine gute Handvoll Nachkommen produziert, ist quasi nie wieder mehr imstande, das Haus zu verlassen, weil ihre Position als Hausfrau und Mutter sie für das restliche Leben geißelt. Welche Ambivalenzen beide Pfade mit sich bringen und welche Opfer die Entscheidung für die Freiheit bedeutet, erforscht Kubsova aus beiderlei Perspektiven – und verbindet diese fließend mit Brittas Geschichte.

Unglaublich gut gelungen sind Kubsova die erzählerischen Parallelen zwischen den zwei Frauenleben: Beiden wird wegen ihrem Entschluss zur Selbstständigkeit Unrecht angetan; beide verlieren Hab, Gut und soziale Position, beide müssen sich angesichts eines argumentativen sozialen Elends behaupten. Dass dennoch die Emotionen und die Typen der Kränkung, die ihnen von männlicher und gesellschaftlicher Seite zuteilwerden, so ähnlich sein können, wird während der Lektüre auf immer wieder erstaunliche und scharfsinnig herausgearbeitete Art und Weise klar.


Ein Teufel hilft dir so wenig wie Gott es tut.
[…]
Beide kannst du rufen, bis du dir
deine Kehle wundgeschrien hast.“(248)


Dass es allerdings in jedem dokumentierten Jahrhundert vorrangig die Frau, die Mutter ist, die ein Stück von sich selbst opfern muss, ist zum Schluss der Lektüre mehr als klar.

Nicht nur am Beispiel Abelkes und Brittas, sondern auch anhand der zahlreichen sehr interessanten Nebenfiguren können weitere Vergleiche gezogen werden, kristallisiert sich heraus, was ein menschliches, ein männliches, ein weibliches Glück ausmachen kann – und welchem Geschlecht die Mittel zur Realisierung dieses in der Wiege eher mitgegeben werden.

Doch ist es schlussendlich die Faszination der Marschlande selbst, die unheimlichen Tiefen und die unentdeckten Pfade in der Erde und den Wäldern; die geographisch historischen Feinheiten, auf die Kubsova eingeht, die der Geschichte ein wirklich ganz besonderes Flair verleihen und es geradezu unmöglich machen, das Buch vor Schluss aus der Hand zu legen.


Jarka Kubsovas Roman „Marschlande“ führt authentisch und gekonnt durch zwei Frauenleben; erforscht die jeweiligen Kämpfe der Protagonistinnen mit respektiv höheren Mächten, zeigt Schicksalsschläge und die natürliche Evolution eines möglichen Frauenlebens per se auf, skizziert emotional fesselnde und inhaltlich mitreißende Geschichten – und lehrt unglaublich viel spannendes über die düsteren und einzigartigen Hamburger Marschlande.

Warum dieser Roman nicht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis steht, ist mir persönlich mehr als schleierhaft. Meinerseits spreche ich an dieser Stelle eine Leseempfehlung mit Nachdruck aus.

Hier geht’s zur Leseprobe.

Bibliografie:

Titel: Marschlande
Autor*in: Jarka Kubsova

320 Seiten | 24,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 30.08.2022
Verlag: S. Fischer
ISBN: 978-3-10-397496-6

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